Von Kernen, Feen und Einhörnern…

Veröffentlicht: 9. Oktober 2011 in Basisdemokratie, LQFB, Piraten

Wir erleben ganz schön wilde Tage im Moment in der Piratenpartei. Was wir 2009 bereits geschnuppert haben und wofür wir seitdem hart und oft zäh gearbeitet haben, ist nun offenbar geschafft. Der politische Durchbruch ist gelungen. Man nimmt uns ernst, interessiert sich für uns, berichtet über uns und selbst in bundesweiten Umfragen machen wir uns inzwischen breit, als hätten wir schon immer dazugehört.

Wer sind eigentlich die Piraten? Wie funktionieren sie und was wollen sie? Das sind Fragen, die man zur Zeit überall liest und wenn man ehrlich ist, sind es auch Fragen, die wir uns selbst nach wie vor täglich gegenseitig stellen. Wir mussten und konnten viel erklären in den letzten Wochen, dabei gerät aber manches Mal in den Hintergrund, was wir noch alles in den nächsten – vermutlich – Jahren klären müssen und hoffentlich können.

Besonders in einem Punkt fällt mir in letzter Zeit eine zunehmende Diskrepanz auf zwischen dem, was wir erklären und dem, was wir bereits geklärt haben. Und das ist Liquid Democracy und im speziellen Liquid Feedback.

Ich weiß zwar nicht wer in diesem Falle wem was erklärt hat und was davon eher in die Kategorie „freie Dichtung“ fällt, aber die FAZ erklärt Liquid Feedback inzwischen sogar zum eigentlichen Kern der Piratenpartei und damit auch gleich dessen Probleme zu fundamentalen Fragen unserer Existenz. Die stirnförmige Kerbe in meinem Tisch hat sich damit wiedereinmal ein Stück geweitet.

Wäre es denn wirklich zu viel verlangt ein Tool, das im Großteil der Bundesrepublik bestenfalls eine Nebenrolle einnimmt, teilweise sogar kaum existent ist, nicht ganz so schwungvoll als Dreh- und Angelpunkt der Piratenpartei und nebenbei auch gleich noch als die große, neue Demokratie-Revolution zu verkaufen? Berlin ist der einzige Landesverband, in dem das Tool bisher eine wirklich tragende Rolle spielt. Im Bund ist es mit so viel Karacho gegen die Wand gefahren, dass der Staub jetzt noch überall in der Luft verteilt ist, die anderen Bundesländer haben es wahlweise wieder eingestampft, nie eingeführt oder schauen ihm gemütlich beim Einstauben zu.

Es ärgert mich. Es ärgert mich, dass wir es nicht auf die Reihe bekommen. Denn was da zum Ausdruck kommt, ist eine Wunschvorstellung. Wir hätten gerne die tolle neue supi-dupi besser-als-alles-davor Wollmilchsaudemokratie und verdammt, ich würde mich doch auch nicht beschweren, wenn wir das tatsächlich hinbekämen. Wir tun es aber nicht. Wir verkacken es im großen Stil. Und trotzdem stellen wir uns vor die Presse und erzählen denen was von magischen Feen und was wir für tolle Einhörner haben. Ich weiß nicht, ob ich das als Bluff werten soll, als Realitätsverdrängung, als Prinzip Hoffnung, oder ob hier einfach irgendwie versucht wird über Umwege Fakten zu schaffen, aber wobei ich mir ziemlich sicher bin, ist dass die Diskrepanz zwischen der Außendarstellung (und vor allem auch dem, wie wir von außen wahrgenommen werden, was nicht immer so wirklich das selbe ist) und der Realität uns bitter einholen wird. Dieser eher wirre Artikel in der FAZ ist darauf bestenfalls ein winziger Vorgeschmack.

Aber das ist nicht das einzige, was mich ärgert. Was mir nun schon in einer ganzen Menge Artikel und Beiträgen aufgefallen ist, ist dass die Presse oft Liquid Democracy (oder manchmal auch Liquid Feedback, aber wer wird schon kleinlich sein…) als Prinzip darstellt, in dem jeder sich überall zu jeder Zeit irgendwie in die politischen Prozesse einbringen und an ihnen teilnehmen kann. Das ist so natürlich viel zu weit gefasst. Liquid Democracy ist ja eher ein spezielles Verfahren, das Entscheidungsprozesse mit einer neuen Form von Delegierten umsetzt. Das kann man in diesem Gesamtkontext sehen, es ist aber nur ein kleiner Ausschnitt von diesem ganzen. Diese Ungenauigkeit führt leider dazu, dass die Holprigkeiten von Liquid Democracy und speziell von Liquid Feedback als entscheidende Rückschläge bei den Beteiligungsmöglichkeiten des einzelnen in unseren demokratischen Prozesse gewertet wird. Je nachdem wieviel Hoffnung man in Liquid Feedback gesetzt hat, oder immernoch setzt, kann man das natürlich als Rückschlag werten, aber selbstverständlich haben wir noch eine Vielzahl an anderen Möglichkeiten der Teilnahme an unseren politischen Prozessen und auch eine ganze Reihe von Tools, die diese erleichtern, oder gar erst ermöglichen.

Ich empfinde es ehrlichgesagt zunehmend als Frechheit, wie immer wieder Liquid Feedback mit der Beteiligung unserer Parteibasis gleichgesetzt wird. Für meinen Geschmack wird viel zu oft so getan, als wäre eine Beteiligung ohne Liquid Feedback überhaupt nicht möglich und damit wird viel gute Arbeit, auch und vor allem viele organisatorische Prozesse, die wir uns in den letzten Jahren erarbeitet haben, auf absolut unfaire und unsinnige Weise abgewertet.

Selbstverständlich können unsere Mitglieder auch ohne Liquid Feedback quer durch die Partei an der Arbeit mitwirken. Selbstverständlich können auch ohne Liquid Feedback Anträge veröffentlicht, beworben und diskutiert werden. Selbstverständlich kann jeder auch ohne Liquid Feedback Anregungen und Verbesserungsvorschläge zu seiner Arbeit einholen. Selbstverständlich können auch ohne Liquid Feedback andere Leute Gegenvorschläge erarbeiten und zur Diskussion stellen. Und selbstverständlich können wir auch ohne Liquid Feedback die Stimmungslage in der Partei außerhalb von Parteitagen ermitteln, wann immer das gebraucht wird.

Ich wage sogar zu behaupten, dass eine ganze Menge dieser Dinge außerhalb von Liquid Feedback sowieso besser funktionieren.

Also bitte, bitte, bitte, mit Zuckerguss oben drauf steckt euch euren „Liquid Feedback oder Tod“-Scheiß sonst wo hin! Danke.

Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Liquid Feedback irgendwo erfolgreich eingesetzt wird, wenn es einen echten Nutzen generiert, ohne dabei wie eine Dampfwalze über die Parteimitglieder hinweg zu fegen, wenn die betroffenen Leute zufrieden sind und man die Früchte ernten kann. Ich habe auch eine eher begrenzte Motivation den Berlinern ihre Arbeitsweisen madig zu reden, im Gegenteil, ich freue mich, dass sie aus dem Tool einen Nutzen ziehen können und noch mehr über den politischen Erfolg, den sie eingefahren haben. Ich bitte aber doch darum ein klitze-klein-wenig auf dem Teppich zu bleiben und die Dinge realistisch zu sehen, die in unserer Partei ablaufen. Und wenn man eh gerade dabei ist, wäre auch ein bischen Respekt gegenüber den Arbeitsweisen von anderen Piraten im ganzen Land nicht unbedingt immer verkehrt, denn so wie ich das sehe, ist es nahezu allen Piraten eine Herzensangelegenheit die Parteibasis so stark wie möglich in das Wirken der Partei einzubeziehen, den Zugang dazu niedrigschwellig zu halten und nach demokratischen Prinzipien zu organisieren. Es führt allerdings, und da staunt man manchmal, dann doch mehr als nur ein Weg nach Rom. Also können wir die Diskussion darüber, welcher Weg denn nun schneller nach Rom führt, welcher vielleicht die schönere Aussicht bietet und welcher dann möglicherweise doch in der Adria absäuft, bitte, bitte wie erwachsene Menschen führen? Können wir bitte denen, die auf der selben Seite dieses Politikzirkusses stehen (ihr wisst, schon: Arrrr!), ein Minimum an Respekt und vielleicht manchmal auch ein kleines bischen Wohlwollen entgegenbringen?

Es macht sich schon zunehmend Verzweiflung in mir breit, wenn ich wieder einen Text über Liquid Feedback so abschließe, aber ich bin immernoch der Meinung, dass großes Potenzial in Liquid Feedback steckt und es doch trotz allem Ärger den ein oder anderen wichtigen Mehrweit in die Partei bringen könnte. Denn leider, leider, liegt die Betonung immernoch auf „könnte“.

So, und beim nächsten Mal versuche ich dann auch wieder etwas weniger zu ranten… Ich bitte den Ton zu entschuldigen.

Kommentare
  1. solly sagt:

    Du hast recht.
    Man sollte ehrlicher sein..
    und mehr von anderen fordern.

    Hyper-transportistische Beliebigkeit kann keine GemeinschaftsMeinung „Volonte General“ widerspiegeln.

    Ohne individuelle und institutionelle BeziehungsArbeit gehts nicht.

    Wie also? Einerseits brauchts auch Menschen und Gefühle, andererseits aber ne Menge Mehr. Meine Lösung kommt mal.

    thxxxxx 4 den suuuuper Artikel, nur der über https://streetdogg.wordpress.com/2011/04/22/the-tale-of-liquid-feedback/ is noch bessa!

  2. […] Die vierte Phase während des Berlin-Hypes beginnt schon kurz vor dem eigentlichen Hype mit der Abstimmung über die neue Benutzeroberfläche von Liquid Feedback selbst. Mit 181 aktiven Teilnehmern und 114 Delegationen (und 6+3 Auto-Ablehnern) war das zwar zuerst noch ein Anstieg auf sehr niedrigem Niveau, aber bereits kurz darauf hatte Liquid Feedback im Zuge der Berlin-Wahl dann eine enorme Medienpräsenz. Nach fast einem Jahr der auf ganzer Linie enttäuschenden zweiten und dritten Phase galt Liquid Feedback plötzlich als unser politisches Betriebssystem und Revolution der Basisdemokratie. Nun gut, wenn ihr meint… Aber es möge sich bitte kein Neumitglied bei mir beschweren, wenn es hier nicht das antrifft, was ihm da im Fernsehen oder bis heute in verschiedenen Presseartikeln erzählt wird. Weil ich sage dann ich hab’s ja gleich gesagt. […]

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