Ständige Mitgliederversammlung, schlechte Idee

Veröffentlicht: 25. April 2012 in Basisdemokratie, LQFB, Piraten

Bald ist wieder Bundesparteitag, Wahlparteitag um genau zu sein. Viele Anträge werden wir dabei wahrscheinlich nicht schaffen, aber dem TO-Vorschlag der Kommission nach zu Urteilen, könnte es dazu kommen, dass wir unsere spärliche Zeit zumindest teilweise mit der Endlosdebatte um Liquid Feedback verbringen werden.

Im Antrag S026 wird beantragt eine „ständige Mitgliederversammlung“ als Organ in die Satzung aufzunehmen, deren Bedingungen genau auf Liquid Feedback zugeschnitten sind. Es geht also darum Liquid Feedback zum Organ zu machen. Der TO-Vorschlag sieht die Behandlung relativ kurz nach den Wahlen vor.

Wer mich kennt, ist wahrscheinlich nicht überrascht, dass ich das für keine gute Idee halte. Ich möchte aber trotzdem gerne nochmal kurz und knapp die Gründe dafür auflisten:

 

1. Liquid Feedback wird aktuell stark überproportional von wenigen Power-Usern beherrscht.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Fans des Systems im System stärker vertreten sind, als die anderen. Der Effekt ist in unserem Bundes-Liquid Feedback allerdings sehr krass. Liquid Feedback bildet daher nichtmal annähernd die Parteibasis ab. Dafür nehmen viel zu wenige Teil und die die teilnehmen sind sehr unrepräsentativ über die Partei verteilt. Eine grobe Aufschlüsselung nach Landesverband zeigt, dass dieser Effekt sogar die anreisebedingte Verzerrung auf unseren Parteitagen bei weitem übersteigt. Aber auch in den unterrepräsentierten Landesverbänden sind es natürlich hauptsächlich die Fans des Systems, die dort die Fahne hochhalten. Beschlüsse sollten aber weiterhin so gut es geht von unserer Parteibasis gefällt werden, nicht von wenigen Liquid Feedback Power-Usern. Dass diese auch noch eine Vorzugsbehandlung beim Vorstand und auf den Parteitagen bekommen sollen, stellt die Basisdemokratie bei uns auf den Kopf.

2. Die Usability ist nachwievor schlecht

Die schlechte Usability ist einer der häufigsten Kritikpunkte am aktuellen System. Viele haben sich darüber beschwert, viele wollen deswegen nicht am System teilnehmen, oder bekommen es nicht ordentlich hin. Wie gut jemand mit umständlicher Software umgehen kann, sollte aber kein KO-Kriterium für die Teilnahme an den Beschlüssen einer Partei sein. Diese muss so barierrefrei wie möglich sein. Eine neue Version und eine neue Oberfläche sind zwar in Arbeit, stehen aber noch nicht zur Verfügung und es gibt auch keine Erfahrungswerte damit. In die Satzung gehört das System aber bestimmt nicht bevor diese Probleme gelöst sind, wenn überhaupt frühstens, wenn das System „rund“ läuft.

3. Das System ist sehr intransparent

Gerne wird behauptet Liquid Feedback wäre transparent, das stimmt aber überhaupt nicht. Es ist für den einzelnen kaum möglich darüber schlau zu werden, was in dem System genau vor sich geht. Wo die ganzen Delegationen hinwandern ist kaum zu überblicken, auch wo die Delegationen von anderen, oder sogar die eigenen, herkommen ist schwer zu erfassen. Warum wer wieviele Delegationen hat, ist ebenfalls kaum nachvollziehbar. Das Geflecht aus drei verschiedenen Delegationsarten, der Transitivität und unterbrochenen Ketten durch eigene Abstimmungen macht das System intransparent und damit demokratisch nicht mehr sinnvoll kontrollierbar. Ob die neue Oberfläche dieses Problem lösen wird, kann noch nicht gesagt werden. Dafür müsste sie überhaupt erstmal implementiert und eine Weile getestet werden.

4. Akkreditierung als Herausforderung

Immer dafür zu sorgen, dass jeder einen funktionierenden Account hat und diesen bei Austritt wieder entzogen bekommt, ist gar nicht so einfach. Bisher funktioniert das so lala, und das auch nur, weil sich ein paar Freiwillige bereiterklärt haben sich so gut es geht darum zu kümmern. Trotzdem klagen ständig Leute über fehlende Accounts und im System gibt es auch durchaus noch Personen, die längst ausgetreten sind. Das kann man momentan unter „shit happens“ verbuchen, das sieht aber anders aus, wenn wir es hier mit einem Parteiorgan zu tun haben. Dass man sich für die sMV auch noch auf Parteitagen akkreditieren muss, wird die Sache wohl kaum besser machen. Eine Deakkreditierung ist gar nicht vorgesehen, es dürfte aber auch eh lustig werden die Stimmberechtigung aller Benutzer korrekt zu pflegen. Wie im Antrag vorgesehen kann jeder noch weit über ein Jahr lang mitspielen, wenn er schon längst ausgetreten ist.

5. Auto-Ablehnen und Endlosdelegationen sind immernoch da

Zwar soll die zukünftige Version von Liquid Feedback den Delegationsverfall ermöglichen und das völlig unsinnige Auto-Ablehnen abschaffen, aber diese liegt noch nicht vor und wir haben auch keine Erfahrungen damit. Das sollte man vielleicht erstmal ändern, bevor man sich Sachen in die Satzung festschreibt…

6. Systemeigenschaften werden per Satzung festgeschrieben

Das Satzungsänderungsantrag ist auch nicht nur genau auf Liquid Feedback zugeschnitten, er würde es auch mit seinen jetztigen Eigenschaften fix festschreiben. Sollten wir irgendwann mal konkrete Verbesserungen wünschen, z.B. mal auf die Idee kommen, dass globale Delegationen vielleicht doch nicht so geil sind, dass es nicht so wahnsinnig basisdemokratisch ist, dass transitive Delegationen das Stimmgewicht zu wenigen Topdelegierten mit oft nur wenigen direkten Delegationen lenken, oder 222 Tage zu lang sind für den Delegationsverfall, bräuchten wir immer eine Satzungsänderung, um das tun zu können.

7. Der Datenschutz gerät völlig unter die Räder

Es ist jetzt bereits kritisch, wie das System die Ansichten aller Benutzer zu absolut allem, was irgendwem einfällt quasi auf Dauer speichert und zum Download anbietet. Die ständige Mitgliederversammlung verschlimmert das noch drastisch. Erstens mal wirft sie die jetzt schon mäßig funktionierende Pseudonymisierung völlig über Bord, indem sie jeden dazu zwingt den bürgerlichen Namen preiszugeben. Die Möglichkeit sich ab und zu einen neuen Account zu besorgen, fällt damit ebenfalls völlig flach. Sämtliche Kompromisse, die bisher wenigstens ein bisschen dabei geholfen haben, dass auch ein paar Leute bei dem System mitmachen, entfallen. Nicht nur der Datenschutzbeauftragte von Berlin hält diese Möglichkeiten aber für zwingend notwendig. Für den Fall, dass die Teilnahme am System irgendwann verpflichtend werden sollte, oder eine Mitarbeit ohne die Teilnahme am System erheblich erschwert wird, fordert er sogar glasklar einen Ausbau der Pseudonymität. Die Verpflichtung zur Teilnahme wäre durch dieses Organ aber gegeben. Das Argument, dass man ja nicht mitmachen muss, wenn einem das System nicht passt, entfällt damit. Das wird defakto zu einem Ausschluss aus der inhaltlichen Ausrichtung der Partei. Es gibt dann nur noch friss oder stirb. Die inhaltliche Arbeit, die momentan mit Liquid Feedback verrichtet wird, stünde dann auch nur noch denen zur Verfügung, die das alles auf sich nehmen wollen. Die Leute, die damit kein Problem haben, haben den Laden hier dann quasi übernommen.

8. Geheime Abstimmungen werden ausgeschlossen

Die Möglichkeit zur geheimen Abstimmung ist ein wichtiger Bestandteil freier, demokratischer Willensbildung. Das sieht auch dieses Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages über Online-Parteitage so. Damit wird hier aber radikal Schluss gemacht. Neben der Reduzierung der beteiligten Teilnehmer auf diejenigen, die sich das alles antun wollen, wird hier auch noch dem Konformitätsdruck Tür und Tor geöffnet. So ist demokratische Willensbildung nicht machbar.

9. Das System ist weiterhin manipulierbar

Trotz aller Selbstgeiselung wird auch die ständige Mitgliederversammlung, genau wie das Liquid Feedback im jetztigen Zustand, manipulierbar sein. Ein Eindringling in das System, ein Admin, die Akkreditierungsbeauftragten auf den Mitgliederversammlungen, usw. können das System potenziell manipulieren wie sie lustig sind. Da hilft auch keine Einsicht auf irgendwelche Klarnamen etwas. Es gibt über 30.000 Klarnamen in der Piratenpartei. Die kennt nicht nur nicht jeder alle, die meisten von denen kennt sogar überhaupt niemand. Es nützt nichts zu erfahren, ob ein Account einem „Olaf Olafsson“ gehört. Mit dieser Information weiß man trotzdem nicht, ob der den Account selbst angelegt hat, selbst betreibt, oder ob seine Abstimmungen frei von Manipulationen sind. Wir machen uns mit der Satzungsänderung einen Wahlcomputer zum Organ.

10. Masse statt Klasse

Bei unserer programmatischen Weiterentwicklung wird uns das System auch nicht helfen. Die inhaltlichen Lücken, die wir haben, haben wir nicht weil uns ein weiteres Organ fehlt, sondern weil uns gute inhaltliche Arbeit fehlt. Und dazu gehört ein wenig mehr, als sich irgendwas superschlaues auszudenken, sondern auch das bekannt machen der Idee, das daran feilen, das überzeugen. Dort wo das gelingt, können wir uns auch heute schon einigermaßen schnell inhaltlich weiterentwickeln. Das passiert nur nicht sehr häufig, weil es uns selten gelingt. Ein weiteres Organ verbessert das nicht, sondern sorgt höchstens dafür, dass die Überzeugungsarbeit übersprungen werden kann und die Clique der Liquid Feedback Power-User schnell durchwinken kann, was ihnen gerade sympathisch erscheint. Darüber wie wir uns tatsächlich verbessern können, habe ich hier ein wenig sinniert.

 

Soweit erstmal die sachlichen Gründe, die aus meiner Sicht gegen den Antrag sprechen. Fast jeder einzelne davon wäre isoliert betrachtet schon Grund genug den Antrag abzulehnen, zusammen offenbart sich allerdings die Katastrophe, die sich da anbahnt. Ich sehe hier leider ernsthaft die Basisdemokratie bei uns in Gefahr, überhaupt die demokratische Ausgestaltung unserer Willensbildung. Viele Mitglieder werden aus der Willensbildung herausgedrängt, stattdessen bekommen wir Beschlüsse aus einem manipulierbaren System. Bitte macht also keinen Quatsch und setzt uns dieses Ei nicht in die Satzung, wo wir es auf absehbare Zeit nicht mehr rausbekommen…

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Kommentare
  1. Klaus Peukert sagt:

    Hallo,

    die SMV wird, so sie kommt, nicht mit der aktuellen LiquidFeedback-Version implementiert werden. Das bedeutet:

    – die Punkte 1, 2 und 3 werden mit der Version 2.0 und der GUI der SaftigenKumquat verbessert/eliminiert.
    – die Akkreditierung wird eine andere sein. Der ALternativantrag möchte dort den ID-Server nutzen, was einen Großteil der Probleme aus Punkt 4 vermeidet.
    – Punkt 5:LF2.0 kennt kein AutoAblehnen mehr, Delegationsverfall ist bereits jetzt aktiviert (und soll in der SMV-Version nach SÄA043 auf 90 tage festgesetzt werden)
    – Punkt 6: Ob mit den Anforderungen ans System tatsächlich bspw. Adhocracy ausgeschlossen ist, müsste man nochmal überlegen :)
    – Punkt 7: Das müsste der DSB dann ggf. (neu) bewerten, eine Stellungnahme zum *Bundes*-Liquid gibt es übrigens bis heute nicht.
    – Punkt 8: Man kann eine Initiative einstellen „Über diesen Antrag soll auf einem BPT befunden werden“.
    – Punkt 9/10: Sind wir halt unterschiedlicher Meinung.

    Versteh mich nicht falsch, Du kannst gern gegen die/eine sMV in jeglicher Form sein, es wäre aber sicher hilfreicher, wenn nicht 2/3 Deiner Argumente mit „Ja, das gilt für LF1.3, aber nicht für LF2.0/Kumquat“ kaputt gehen :)

  2. StreetDogg sagt:

    Ich will dir deine Optimismus ja nicht nehmen, aber ich teile ihn nicht. Ich rechne mit Verbesserungen, aber nicht mit zufriedenstellenden Lösungen der (meisten) Probleme.

    Und außerdem verbessert man so ein System bevor man es in die Satzung schreibt. Alles andere ist imho Wahnsinn…

  3. Ike sagt:

    Moin!

    Der Antrag SÄA043 hat einige Anpassungen zur Originalinitiative, die zumindest teilweise auf die von Dir angesprochenen Punkte eingehen.

    Punkt 1: Ich habe nicht umsonst ein Mindestquorum für Beschlüsse drin. Damit wir offizielle Aussagen herausbekommen, müssen sich also viele daran beteiligen. Wird die Version 2 von LiquidFeedback eingesetzt, so dürften dann auch die Punkte 2 und 3 beseitigt sein und damit Punkt 1 entkräften.

    Punkt 4: Ich möchte die Anmeldung über den ID-Server durchführen lassen. Dieser macht einen automatisierten Abgleich mit der Mitgliederverwaltung. Ist dies umgesetzt, ist garantiert, dass jedes Mitglied sofort nach Eintragung in die Mitgliederverwaltung mit dem System loslegen kann. Genauso schnell geht es dann mit dem Austritt, bzw. Deaktivierung von Accounts durch das nicht Bezahlen von Beiträgen.

    Punkt 5 und Punkt 6: Ich habe bewusst die Systemanforderungen im Vergleich zur Originalinitiative stark verallgemeinert. Ich möchte damit dafür sorgen, dass Weiterentwicklungen und Anpassungen nicht behindert werden.

    Punkt 6: Im SÄA043 sind 90 Tage festgeschrieben. Die 90 Tage sind dabei in der Geschäftsordnung festgeschrieben, nicht in der Satzung.

    Punkt 7: SÄA043 verzichtet auf die zwangsweise Offenlegung des bürgerlichen Namens. Über den ID-Server kann eine mit der Clearingstelle vergleichbare Pseudonymität erreichen. Zusätzlich erlaubt der Antrag aber auch, dass Personen optional einen bestätigten bürgerlichen Namen verwenden dürfen. Prinzipiell kann der ID-Server so erweitert werden, dass auch diese Namen übertragen werden könnten – optional.

    Punkt 8: Ja, es gibt im System keine geheimen Abstimmungen. Da es aber bei SÄA043 die Möglichkeit von Pseudonymen gibt, kann so dem Gruppendruck entgegengewirkt werden.

    Punkt 9: Ich denke ebenso, dass die eventuell erhöhte Manipulationssicherheit durch Einführung von verpflichtenden Klarnamen den Nachteil nicht aufwiegt. Deswegen verzichtet SÄA043 ja auch darauf.

    Punkt 10: Bei der SMV geht es nicht primär um die programmatische Weiterentwicklung, sondern um offizielle Aussagen zwischen den Parteitagen. Ich denke, dass wir dies benötigen. Wir können nicht immer mehrere Monaten warten, bis wir zu aktuellen Ereignissen Stellung beziehen können.

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