Offenbar muss bald wieder Bundesparteitag sein, zumindest deutet das periodisch auftretende Trommeln für eine ständige Mitgliederversammlung mal wieder darauf hin. Da werden mal wieder alle Register gezogen und alle Kanäle genutzt, um die eigenen Interessen zu pushen.
Naja, geschenkt… der Grund warum wir die SMV bisher nicht eingeführt haben, liegt ja nicht daran, dass es die Ich-will-aber-jetzt-endlich-Rufe nicht auch früher schon gegeben hätte, sondern daran, dass es eine Menge handfester Gründe gibt, warum das – immernoch – keine gute Idee wäre. Die Probleme liegen bereits seit Jahren auf dem Tisch, ernsthaft gebessert hat sich seitdem aber eher wenig.
Seit etwa 3 Jahren probieren wir nun schon an dem Thema Online-Beschlüsse herum. Auf dem BPT 2010.1 in Bingen haben wir beschlossen im Bund ein System einzuführen, mit dem wir nach den Prinzipien der Liquid Democracy unverbindliche Meinungsbilder einholen können. Selbst dafür war die simple Erstellung der Nutzungsbedingungen und der Streit über die Datenschutzanforderungen, die diese erfüllen sollen, ein Kraftakt, der beinahe den Bundesvorstand zerrissen hätte und bis heute tiefe Risse innerhalb verschiedener Gruppen der Parteibasis hinterlassen hat.
In 3 Jahren konnte man sehr schön die Funktionsweise und die Auswirkungen des Delegationssystems von Liquid Feedback beobachten. Z.B. wie es die Entscheidungsmacht bei wenigen Personen konzentriert, und wie die unterschiedliche Akzeptanz und Nutzung zur völligen Dominanz einer Teilgruppe der Parteibasis geführt hat. So sind leider immer wieder Meinungsbilder zustandegekommen, die vor allem den Interessen dieser Teilgruppe entsprechen, nicht jedoch den Mitgliedern der Piratenpartei insgesamt. Für ein Demokratiesystem, das eine Basisdemokratie online abbilden soll, ist das eher schlecht…
Die Akzeptanz dieses 3-jährigen Tests, ist leider stark hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Trotz der relativ hohen Hürden eines Bundesparteitags hatten die Meinungsbilder im System zu keinem Zeitpunkt mal mehr Teilnehmer, als Leute zum BPT in der selben Zeit gekommen sind. Stattdessen sind in der Zeit reihenweise verschiedener Hoffnungen und Mythen zerplatzt. Zu Anfang würde noch behauptet die Delegationen würden bei den Abstimmungen nur noch eine kleine Rolle spielen, weil die Leute da ja selbst abstimmen. Äh, nein. Die Aktivität wäre angeblich halt nur vor Parteitagen hoch. Uhm, manchmal ein bisschen, oftmals einfach nicht wirklich. „Superdelegierte“, die ganze Abstimmungen allein entscheiden, gäbe es ja gar nicht mehr. Äh, leider nein. Die Beteiligung wäre ja so gering, weil der Vorstand die Meinungsbilder nicht „ernst nehmen“ würde. In Neumünster haben wir gleich mehrere „Ernstnehmer“ in den Bundesvorstand gewählt. Positiver effekt auf die Beteiligung? Nope. Der speziell dafür eingeführte Themenbereich für Anträge an den Vorstand wurde sogar zum völligen Rohrkrepierer.
Unabhängig von den ernüchternden Erfahrungen mit dem Experiment „Liquid Democracy“ gibt es aber auch ganz generell schwer lösbare Probleme bei jeder Form von Online-Mitbestimmung. Auch im Sicherheitsbereich konnten wir in den letzten 3 Jahren so unsere Erfahrungen sammeln. Bei Software und dazugehörigen Arbeitsprozessen kann man niemals sicher sein, dass es keine gravierenden Fehler gibt, keine Sicherheitslücken in den beteiligten Systemen oder menschliches Versagen. Im Grunde sind Online-Abstimmungen immer irgendwie angreifbar und man braucht wirksame Strategien Manipulationen zu entdecken und ihnen entgegnen zu können. Auch in Liquid Feedback wurde bereits eine Sicherheitslücke gefunden, die es erlaubt hat Accounts von anderen Personen zu übernehmen. Ob es weitere gibt, kann niemand mit absoluter Gewisseheit sagen. Aber auch abseits der Technik ist Online-Demokratie nicht trivial. So wundern sich manchmal Leute, warum sie eigentlich mehrere Accounts im System haben, was ja eigentlich gar nicht passieren dürfte. Passieren tut es aber trotzdem, da Fehler bei der Accountvergabe nunmal vorkommen können. Leider besteht die Möglichkeit zur absichtlichen Vergabe unberechtigter Zugänge aber natürlich genauso. Aktuell kann auch niemand sagen, ob die Einträge in der Mitgliederdatenbank auch wirklich alle einer einzelnen, realen Person gehören. Niemand prüft das bisher nach.
Die Idee dem zu entgegnen, indem man alle dazu zwingt am System unter ihrem vollen, bürgerlichen Namen teilzunehmen, gibt es bereits seit es das System gibt. Seit dieser Zeit liegen inzwischen nun sogar mehrere Stellungnahme von Datenschutzbehörden vor, die das klar untersagen, z.B. aus Berlin und aus Schleswig-Holstein (PDF). Um Manipulationen zu erkennen, würde es eh leider nicht viel bringen, da man eine manipulierte Stimmabgabe von „Peter Müller“ auch nicht besser als manipuliert erkennen kann als von „Mindblaster2000“. Stattdessen würde man eine riesige Datenbank schaffen, die sämtliche politische Einstellungen aller Parteimitglieder, die unter diesen Umständen noch mitbestimmen wollen, zu allen erdenklichen Themen ansammeln und allen zugänglich machen würde. Eine eher gruselige Vorstellung, die so völlig zurecht nicht zulässig ist. Selbst die aktuellen Pseudonyme bieten aber leider nur einen mäßigen Schutz davor, dass Accounts einer konkreten Person zugeordnet werden können. Jede Äußerung im System oder außerhalb bietet Datenmaterial, das für eine Zuordnung dienen kann. Ein wirklicher Schutz vor Öffentlichmachung der eigenen Entscheidungen ist gar nicht so einfach zu bewerkstelligen, kann aber dringend notwendig sein, wenn z.B. Repressionen aufgrund der Entscheidungen zu befürchten sind. Das ist aber leider sowohl innerhalb der Piratenpartei, bei unserer nicht immer allzu flauschigen Diskussionskultur, als auch außerhalb davon durchaus möglich, je nach Fall vielleicht sogar sehr wahrscheinlich.
Es ist also nicht so, dass die letzten Jahre ereignislos gewesen wären, oder wir keine Erkenntnisse gewonnen hätten. Die Debatte um Online-Abstimmungen schreitet voran, die auftauchenden Probleme haben sich aber leider als erheblich herausgestellt.
Wie soll es nun also klappen, mit den verbindlichen Online-Abstimmungen? Nach 3 Jahren Experimentieren und Suche nach Lösungen lautet die Antwort offenbar: „Aaaach, reden wir doch einfach nicht mehr drüber!“
Nach 3 Jahren sind wir nun also bei dem Stand angekommen, bei dem wir überhaupt nicht mehr darüber reden sollen, WIE um alles in der Welt das überhaupt praktisch gehen soll. Es soll plötzlich nur noch um ein ominöses OB gehen, also ob man das überhaupt will. WAS man überhaupt will, scheint dafür aber jetzt irgendwie egal. Ohne zu wissen wie etwas gehen soll, weiß man aber leider auch nicht womit man am Ende dasteht, welche Kröten man dabei schlucken muss und welche Probleme sich vielleicht über Jahre hinweg noch als unlösbar herausstellen. Wie um alles in der Welt soll man so entscheiden, ob man „es“ will oder nicht?
Ein lustiges Wünsch-dir-was und jeder darf sich selber in der Fantasie ausmalen, was das denn nun sein soll, brauchen wir uns nicht in die Satzung zu schreiben. Echt nicht… Leider geht es aber auch um etwas anderes.
Wenn man Lösungen hätte, wie das alles gehen soll, könnte man das auch gleich beschließen. Hat man aber nicht. Man hat noch nichtmal eine geeignete Software für das Vorhaben. Und der Versuch es mit schlechten Lösungen und unzureichender Software einfach durchzuziehen geht nun schon seit rund 2 Jahren schief, in denen der Parteitag die Antragssteller regelmäßig wieder nach Hause geschickt hat, ohne die Anträge überhaupt diskutieren zu wollen. Die wesentliche Wirkung der aktuellen Satzungsanträge liegt aber leider darin die ganzen schlechten und immer wieder gescheiterten Konzepte in Zukunft mit einer einfachen Mehrheit verabschieden zu können. Statt die Ideen zu verbessern, werden die Hürden gesenkt diese durchzubekommen. Ich halte das bei einem Vorhaben, das die demokratische Grundlage unserer Partei vollständig umkrempeln soll, für mittelschweren Wahnsinn. Ein solches Vorhaben braucht breiten Rückhalt in der Partei und keine knappen Mehrheiten, die zähneknirschend irgendetwas durchwinken, weil nunmal keiner eine bessere Lösung parat hat und eine neue, erprobte Software halt auch nicht mal eben vom Himmel fällt.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich die Debatte nun dahin entwickelt hat möglichst alles, was schwierig ist, auszublenden und sich stattdessen darauf konzentriert, wie man das eigene Vorhaben irgendwie durch die bestehenden Widerstände hindurch bekommt. Für die weitere Entwicklung der Piratenpartei stimmt mich das ja nur eingeschränkt optimistisch…
So dringend brauchen wir so eine SMV nun wirklich auch wieder nicht. Selbst bei einem Beschluss würde diese vor der Bundestagswahl ohnehin noch nicht starten können. Stattdessen hätten wir dann zur Wahlkampfzeit den verschleppten Streit über das WIE, der jetzt so krampfhaft vermieden wird. Mal abgesehen davon müsste das ganze auch noch vor dem Schiedsgericht bestehen, was auch alles andere als sicher ist. Das Parteiengesetz hat z.B. Regelungen, die ein mindestmaß an demokratischen Abläufen innerhalb von Parteien sicherstellen sollen. Bestehende SMV-Ideen gehen damit in einigen Punkten recht kreativ um, um das mal vorsichtig auszudrücken. ;)
Nein, sollten wir wirklich mal den Bedarf haben Entscheidungen sehr dringlich aus der Basis heraus zu fällen, sollten wir lieber Abstimmungen in dezentralen Urnen voranbringen, die den Großteil der Probleme von Online-Abstimmungen schlicht gar nicht haben. Bis dahin sollten wir lieber etwas mehr von unserer Energie in eine gut durchdachte Ausarbeitung unserer Programme stecken. Mit guten Programmen erübrigen sich nämlich die meisten Schnellschussentscheidungen.
Die Weiterentwicklung der Demokratie – auch mithilfe des Internets.
Das ist ein Kernanliegen der Piraten; einzig an der Frage, wie wir dieses Ziel erreichen, scheiden sich die Geister.
Die Frage des „Wie’s“ wird so leidenschaftlich und inbrünstig geführt, dass man schon fast im einen oder anderen Moment von Fanatismus sprechen möchte.
Aber der größte Witz an diesem immerwährenden, schwellenden, erbitterten Streit, der an Aufeinandertreffen von Gut und Böse auf Kino-Leinwänden erinnert, ist der Umstand, dass diese Frage bei vielen auf einem elementarem Misssverständnis fußt:
Viele glauben nämlich „Weiterentwicklung der Demokratie mithilfe des Internets = Beschlusssystem + sMV“
Das stimmt nicht. Das stimmte nie, das stimmt jetzt nicht und das wird auch in Zukunft nicht stimmen. Dementsprechend ist die Annahme, mit dem Beschluss über eine sMV steht und fällt das oben genannte Kernanliegen der Piraten, ein Trugschluss.
Kollektive Willensbildungsprozesse bestehen doch nicht nur aus einer Beschluss-Phase.
Dem vorweg gibt es eine viel wichtigere Phase, mit einer ganz anderen Problemlage; wichtiger deshalb weil sie grundlegend für die nachfolgende Beschluss-Phase ist:
Na ? Was wird das wohl sein ? Es ist die Diskussions-Phase.
Warum lasst ihr eure Gestaltungswut nicht daran aus, Piraten ?
Das ist doch so ungleich effizienter.
Aber es wird noch besser:
Kollektive Willensbildungsprozesse bestehen doch nicht nur aus einer Diskussions- und einer Beschluss-Phase.
Dem vorweg gibt es eine viel wichtigere Phase, mit einer ganz anderen Problemlage; wichtiger deshalb weil sie grundlegend für die nachfolgende Diskussions- und Beschluss-Phase ist:
Na ? Was wird das wohl sein ? Es ist die Informations-Phase.
Warum lasst ihr eure Gestaltungswut nicht daran aus, Piraten ?
Das ist doch so ungleich effizienter.
Die Beschluss-Phase ist nur die Spitze des Eisbergs der kollektiven Willensbildung.
Ich glaub‘ ehrlich gesagt nicht, dass der Masse der Piraten was an der Weiterentwicklung der Demokratie liegt. Ja klar, sie reden gerne darüber – alle – schmücken sich damit, stellen LQFB und Co. als digitalisierten Heiland da, aber ich glaub‘ nicht, dass die Masse der Piraten es ernst meint mit der Weiterentwicklung der Demokratie – auch wenn sie sich nicht dem gegenüber versperren würden, wenn es über sie einbräche.
Wer es nämlich mit der Weiterentwicklung der Demokratie wirklich so ernst meint, wie es den Anschein erweckt, der würde auch in diesem Bereich mit anpacken. Der würde nicht nur reden, der würde richtig arbeiten – Hinweis: Mit den Füßen stampfen, und „Ich will aber ! Ich will aber !“ brüllen ist zwar anstrengend, aber kein arbeiten.
Kurz: Der würde sich bei den Demokratie-AGen tatkräftig einbringen und dort regelmäßig mitarbeiten – http://wiki.piratenpartei.de/Demokratie#Arbeitsgemeinschaften_und_Arbeitskreise
Das ist allerdings ein Schritt, den bislang nur ein Bruchteil aller Piraten gewagt hat, die an der sMV-Diskussion beteiligt sind. Und das wohlbemerkt, obwohl die Demokratie AGen sich durch ein angenehmes, konstruktives Arbeitsklima auszeichnen.
Ihr wollt die Demokratie-Revolution ? Wir wollt außerirdisch überlegene 1337-Demokratie, die den verkrusteten Apparat der repräsentativen Parlamentsdemokratie weg-pwnd ? Dann arbeitet dran.
Es ist ja nicht so, dass da nicht genug zu tun ist.
Ein Informationssystem ? Haben wir nicht. Ein Diskussionssystem ? Da testen wir gerade mit http://bptarguments.piratenpartei.de/ den ersten (!) Wurf, der wahrhaftig nicht der Stein der Weisen ist, mit erschütternd dürftiger Beteiligung – nur 50 Leute; wie kommt’s, Demokratie 2.0-Liebhaber ? Ein Beschlusssystem ? Haben wir, bloß leider auch noch immer dessen Probleme; allen vorran die fehlende Basis-Akzeptanz, die Folge einer Reihe von Unterproblemen ist; um sie ausdrücklich zu nennen:
– das Wahlcomputer-Problem (kiss: elektronisch + nachvollziehbar + geheim ; da kann man immer nur 2 von 3 Eigenschaften haben, nicht alle 3)
– das Super-Delegierten-Problem
– die abschreckend hässliche und unübersichtliche Oberfläche
– die Instanzen-Zersplitterung in Bundes-, Landes- und Kreisinstanzen
– Das Akkreditierungs- bzw. Verifizierungs-Problem: Es muss sichergestellt werden, dass sich hinter jedem Teilnehmer am System eine einzige, natürliche Person befindet, die Mitglied der Piratenpartei ist, und keine Sockenpuppen-Accounts bestehen; die Bundeskiste ist hierfür grundätzlich ein diskutabler Ansatz, der allerdings wirklich die jünst aufgekommene Kritik annehmen und tatkräftig reflektieren muss, anstatt diese aus Angst, nicht durchzukommen, abzublocken.
– abgesehen von Delegationen keine implementierten Konzepte, um zeitarmen Teilnehmern mehr Partizipation zu bieten: Stimme an Dritte abgeben – mehr fällt euch nicht dazu ein ? Ich bitte euch…
Also, wie ihr seht:
Es gibt in eurem Lieblingsthema, in dem doch so viel Herzblut von euch drin steckt – der Weiterentwicklung der Demokratie – viele offene Baustellen, die nur darauf warten, dass ihr mit dem eurer Inbrunst entsprechenden Tatendrang über sie hereinbrecht und Probleme löst. Worauf wartet ihr ?
Die Zahnfee wird diese Probleme nicht lösen, und wo das endet, wenn jeder sich denkt „och, ein anderer wird’s machen“, brauch‘ ich euch wohl nicht näher erläutern…
Viele Grüße,
/ aka Oliver
Step by step, trial and error, Probieren geht über Studieren, irgendwas mit „Mindesthaltbarkeit“… all diese Spaßsprüche, die die Piraten zu dem machen, was sie sind, sollte also nach Deiner Ansicht am besten nicht stattfinden. Du hast da einen wichtigen Satz geschrieben: nach drei Jahren Diskussion und erheblichem Streit liegt nichts vor, was bei der Auflösung der erheblichen Widersprüche hilft. Bricht das nicht eher eine Lanze für das „piratige Mandat“? Also vielleicht doch einfach mal machen, step by step, im Bewusstsein, dass eine kleine Änderung den Mitgliedern keine Geschlechtskrankheiten einbringt – aber immerhin die Aussicht auf eine Entwicklung, die seit drei Jahren vorenthalten wird.
Jup, ich denke, das mit der SMV sollte man langsam mal anfangen.
[…] Und halbjährlich grüßt die SMV-Debatte 9. Mai 2013 […]