Ich lese und grüble und lese und grüble und es will und will nicht zusammenpassen. Es gibt inzwischen einige Texte, viele, viele Tweets, Pressemitteilungen und Videos zum 21.12.2013 in Hamburg und bei vielem davon habe ich das Gefühl, dass der Unfall bereits vor dem Tippen passiert ist, weil den Leuten überhaupt nicht klar zu sein scheint, was da eigentlich stattgefunden hat in und großflächig um das Schanzenviertel.
Ich lese hier viele Diskussionen wer angefangen hat, wer welche Gesetze gebrochen hat, wer schuld ist an dem was da passiert ist. Mir kommt das alles etwas müßig vor, weil der Kontext des ganzen hier offenbar völlig falsch eingeschätzt wird. Am deutlichsten zeigt sich das für mich an der Aufforderung, die Demo solle sich doch von Gewalttätigen abgrenzen, oder diese zur Mäßigung aufrufen. Lolwhut? Als ich auf der Demo angekommen bin, habe ich mich 5 Minuten durch die Menge geschlängelt, bis ich mal die ersten Leute ohne schwarze Kapuze, Sonnenbrille und Tuch vor dem Mund gefunden habe. Ich glaube einigen ist nicht ganz klar wer hier zum Tanz geladen hat und was getanzt wurde.
Wir haben hier in diesem Land ein ausgeklügeltes System etabliert, um gesellschaftliche Konflikte zu kanalisieren, durchzukneten und systematisch in einen stabilen Zustand zu versetzen. Wir nennen es Rechtsstaat und Demokratie. Gleiche Rechte für alle, neutrale Instanzen, gegenseitige Kontrolle und Einflussmöglichkeiten auf die Spielregeln. Dennoch fühlt sich nicht jeder mit dem Resultat einverstanden. Nicht jeder hält die Einflussmöglichkeiten für ausreichend oder findet das Konstrukt fair und gut ausbalanciert. Es gibt Leute, die akzeptieren die Regeln nicht und schaffen sich ihre eigenen. Weil sie es können. Weil sie es besser finden. Solche Leute besetzen z.B. Häuser und interessieren sich reichlich wenig dafür, wie der Eigentümer das findet. Sie akzeptieren die Macht von Investoren – die Macht deren Geldes – nicht und genausowenig die allgemeinen Spielregeln, die ihnen diese Macht theoretisch verleihen würden. Sie diktieren ihre eigenen Spielregeln und setzen diese durch.
Diese Leute machen das mit dem Opt-Out aus einem System, das keinen Opt-Out vorsieht. Sie verschaffen sich ebenfalls einen mehr oder weniger stabilen Zustand, aber nicht mit den Mitteln, die der Rechtsstaat und die Demokratie vorsehen. Natürlich bedienen sie sich dem Mittel der Gewalt, bzw. überwiegend der Gewaltandrohung. Da kann man lange nach Demos mit dem Finger auf andere zeigen und Videos durchschauen, wer jetzt von wem zuerst auf die Mütze bekommen hat.
Diesen Samstag wurde nicht für eine Demonstration im demokratischen Sinne nach Hamburg gerufen. Die Eigentümer der Roten Flora haben den außerdemokratischen stabilen Zustand in der Schanze in Frage gestellt und ihre Antwort bekommen. So wie ich das sehe hat hier eines der internationalen Zentren der autonomen Szene zur Machtdemonstration gerufen. Unter einer Demonstration stellt man sich üblicherweise das Aufmerksammachen für ein Thema vor, das Aufzeigen der Relevanz durch Masse, die Beeinflussung der Politik durch eine laut vertrene Botschaft. Wir haben ein Grundrecht dies zu tun, denn es gehört zu den demokratischen Spielregeln. Am Samstag ging es aber um eine Demonstration des Gewaltpotenzials der Szene. Deren Stärke bemisst sich nicht in Solidarität in der Bevölkerung, oder in Wählerpotenzial, das sie mobilisieren können, sondern in den (sozialen und finanziellen) Kosten, die sie verursachen können, wenn versucht wird sie wieder in die Spielregeln, die sie bewusst verlassen haben, zurückzuzwängen.
Die Kritik, dass die Gewalt die Botschaft der Demonstration entwerten würde, greift also meiner Einschätzung nach komplett daneben. Sie denkt innerhalb der demokratischen Spielregeln, wo dieser Konflikt aber nicht stattfindet. Defakto gab es an diesem Samstag zwei Demonstrationen, die angemeldete Hülle, nach demokratischen Regeln, und eine Demo in der Demo, mit dem Zweck mindestens deutlich mit den Säbeln zu rasseln. Die Vorstellung die Gewaltbereiten aus dieser Demo auszuschließen erscheint mir absurd, denn diese waren kein Bug, sondern ein Feature, genauer noch der Zweck der ganzen Veranstaltung. Zu Gast waren hier eher die „normalen“ Demonstranten, die entweder defakto eine Soli-Demo für die Autonomen gemacht haben, oder wohl tatsächlich versuchen wollten nebenher noch mal eben demokratisch für die angemeldeten Anliegen einzutreten. Dass diese Kombi-Demo in irgendeiner Variante nicht in gewalttätigen Ausschreitungen geendet hätte, finde ich allerdings ziemlich unrealistisch. Die Frage war eigentlich nur wann bzw. wo.
Ich denke, dass der Polizei das alles mehr oder weniger so von vorneherein bewusst war. Ich weiß nicht, ob die Polizei es je in Betracht gezogen hat den Demonstrationszug auf die eigentliche Demoroute zu lassen. Aus polizeitaktischer Sicht ist das Schulterblatt ein günstiger Ort die Menschenmenge von mehreren Tausend Menschen zu kontrollieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass die keine besonders große Lust hatten diese Menschenmasse irgendwo im weiträumigen Gelände an den Hacken zu haben. Klar scheint mir aber, dass an diesem Tag null Toleranz die Devise war. Die haben das ganze Ritual der gegenseitigen Provokation einfach übersprungen und gleich am Anfang Feierabend geläutet. Aus Polizeisicht war diese Taktik halbwegs erfolgreich. Wirklich große Straßenschlachten gab es soweit ich das mitbekommen habe nur im Bereich der Flora. Die Gruppen, die dann unvermeidlicherweise den ganzen Tag durch Hamburg gezogen sind, waren alle verhältnismäßig klein und sozusagen „beherrschbar“. Eine Chance auf einen halbwegs friedlichen Verlauf des Tages gab es so aber natürlich nicht mehr. Wahrscheinlich schätzten die Verantwortlichen die Chance dafür eben ähnlich gering ein wie ich. Die Frage der Demonstrationsfreiheit hat sich an dieser Stelle ohnehin erledigt. Die gibt es nur für friedliche Demonstrationen, die sich an die Regeln halten, mit Ordnern und auf die Polizei hören und ohne Sachen kaputtmachen oder werfen. Da kann man hinterher dann zetern wie man will. Die Spielregeln nur einseitig aufzukündigen funktioniert halt nicht.
Spannend ist allerdings die Frage, was mit dem Rest der Demo ist. Irgendwo ein paar Reihen weiter hinten gab es sie ja doch, die Leute, die eine ganz normale, friedliche Demo abhalten wollten. In der Praxis ist dieser Teil zum Kollateralschaden der ganzen Nummer geworden. Ob das so zulässig ist, ist da schon eher fraglich. Die angemeldete Demonstration wurde sehr früh offiziell für beendet erklärt. So wie ich das mitbekommen habe, gab es mehrere Versuche Spontandemos anzumelden. Es wurde aber wohl nichts mehr zugelassen. Wahrscheinlich war es den Beamten zu mühselig hier noch großartig zwischen friedlichen und gewaltbereiten Demonstranten zu unterscheiden. Der Rest des Tages drehte sich nur noch darum alles, was nach Demo aussah, gewaltsam auseinander zu treiben oder zu kesseln, leider wieder mal häufig mit völlig unverhältnismäßiger Polizeigewalt und einer großen Portion Willkür. Schilderungen von verschiedenen Fällen finden sich im Netz zuhauf.
Für mich ergibt sich daraus ein zwiespältiges Bild. Ich kann mit den demokratischen Strukturen in diesem Land im Großen und Ganzen gut leben. Mein politisches Engagement ist der Verbesserung der Zustände über die geordneten Bahnen verschrieben. Die Möglichkeiten des zivilen Ungehorsams, dort, wo die Maschinerie ungebremst Ungerechtigkeit und Leid produziert, Sand ins Getriebe werfen zu können, haben ihren Charme und ich denke auch ihre Berechtigung. Man sollte sich allerdings bewusst machen, dass das unter Umständen einen hohen Preis haben kann. Am Samstag bestand dieser Preis aus erheblichen Zerstörungen im öffentlichen Raum, demolierten Geschäften und anderen Einrichtungen, vielen Leuten, die einen echt beschissenen Tag hatten, einigen Verhaftungen und juristischen Konsequenzen, teilweise willkürlich, vielen hunderten Verletzten, einige davon schwer. War es das wert? Hat das sein müssen?
Ich glaube ich mochte den stabilen Zustand vorher lieber.