Ein kleiner BGE-Rant

Veröffentlicht: 18. Februar 2017 in BGE, Piraten

Eigentlich halte ich mich aus BGE-Diskussionen schon seit Jahren weitestgehend raus, vor allem weil sich ohnehin immer das gleiche, unfruchtbare Muster dabei ergibt. Den Versuch Verfechtern eines BGE aus der Nase zu ziehen, wie das überhaupt funktionieren soll, habe ich weitestgehend aufgegeben. Was mich aber dann doch immer wieder stört, ist wie völlig unkritisch viele Leute absolut alles bejubeln und verbreiten, auf dem irgendwie „BGE“ drauf steht.

Tatsächlich Respekt habe ich ja vor der Initiative „Mein Grundeinkommen“, die eine Non-Profit Lotterie gegründet hat und damit regelmäßig Presse-Artikel und Interviews einheimst, in denen sie das Thema präsentieren können. Es hat zwar nichts mit einem BGE zu tun an irgendwelche Leute 12.000€ zu verlosen, aber als PR-Vehikel funktioniert es trotzdem sehr gut.

Dann waren da noch die Finnen, die nun an 2.000 Personen jeweils 560€ ausbezahlen, die bisher 560€ bekommen haben. So formuliert klingt das jetzt vielleicht nicht sooo spektakulär, aber falls irgendjemand von denen mal einen bezahlten Job bekommt, hat er dann faktisch einen Kombi-Lohn, der als BGE aber viel netter klingt.

Und dann war da noch mein Liebling, der auch der Anlass für diesen Text hier ist: Der vierteljährliche Artikel von Thomas Straubhaar von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Im Grunde ist deren Denke jedem klar und dennoch wird der immer gleiche Text in wechselnden Medien jedes mal auf’s neue gefeiert, als wäre die Unterstützergruppe des BGE schon wieder um 5 Millionen gewachsen. Eines dieser Medien war sogar mal unser eigener Wahlkampf-Kaperbrief, weil es steht ja BGE drauf, dann muss es ja gut sein.

Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Verfechtern eines BGE, hat Herr Straubhaar inzwischen aber gleich ein komplettes Buch darüber geschrieben und geht dort tatsächlich mal auf ein paar Details ein, wie er sich das so vorstellt. In Kurzform ist das nun in dem Artikel „Das Grundeinkommen ist nichts anderes als eine Steuerreform“ veröffentlicht und mir mehrfach in die Twitter-Timeline geschoben worden. Ich kann wirklich, wirklich, wirklich nur hoffen, dass keiner von euch diesen Text tatsächlich gelesen hat vor dem Retweet und ihr euch alle einfach nur wieder von dem Schlagwort „Grundeinkommen“ triggern lassen habt.

Ich möchte diesen Text gerne im Detail durchgehen.

"Geld für alle" vom Staat ohne Gegenleistung und in Höhe des Existenzminimums bedeutet einen fundamentalen Perspektivenwechsel:

Nein, tut es nicht. Die Versorgung von allen mit dem Existenzminimum ist heute bereits ein Grundsatz unseres Sozialstaats. Der unterhöhlt sich zwar durch das HartzIV-Sanktionssystem selbst, aber eine Abschaffung dessen wäre eher der Fix eines Bugs, als eine fundamentale Veränderung.

weg von einem Sozialstaat, der im Nachhinein durch aktivierende Maßnahmen korrigieren will, was vorher falsch gelaufen ist.

Äh, wat? Ich stelle mir schon im allerersten Satz die Frage, was Herr Straubhaar eigentlich glaubt, das ein Sozialstaat tut?! Ich vermute er denkt hier vor allem an den Bereich Arbeitsvermittlung. Dieser ist allerdings jawohl nur ein winziger Teil des Sozialstaats. Etwas anderes scheint ihn aber generell nicht zu interessieren.

Weg von einer Finanzierung über Abgaben aus dem Arbeitseinkommen. Weg von Arbeitswelten, Familienbildern und Lebensläufen, die schon heute nicht mehr der Wirklichkeit und erst recht nicht dem Alltag der Zukunft entsprechen. Hin zu einer garantierten Teilhabe und einer Ermächtigung aller – im Voraus. Hin zu einer Finanzierung, die auch die Wertschöpfung von Robotern einbezieht. Hin zu Lebens- und Verhaltensweisen, die der Realität des 21. Jahrhunderts entsprechen.

Ich finde es ja schön, dass die aktuellen Arbeitswelten, Familienbilder und Lebensläufe nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen. Mir kommt eh in letzter Zeit alles wie ein einziger, großer Fake vor. Meine Hoffnung ist ja, dass wir tatsächlich in der Matrix leben und sich da gerade irgendjemand einen Spaß mit uns erlaubt.

Unsinn ist hingegen die völlig abstruse Vorstellung Wertschöpfung durch Roboter würde nichts zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen. Ich kann mir ehrlichgesagt kaum vorstellen, dass ein ausgebildeter Volkswirt sowas wirklich glaubt und es ärgert mich durchaus, dass so ein Blödsinn auf diese Weise weitere Verbreitung findet. Die Finanzierung des gesamten Staats, inklusive der Sozialtransfers, basiert auf Wertschöpfung. Die Differenzierung in „Wertschöpfung durch Roboter“ und „Wertschöpfung durch Arbeiter“ macht an sich schon hinten und vorne keinen Sinn. Newsflash: Menschen benutzen Roboter, um Wertschöpfung zu machen. Schon allein die Abgrenzung von Robotern zu jeglichen anderen Arten von Werkzeugen und Maschinen dürfte in der Praxis ziemlich unmöglich sein.

Ja, das bedingungslose Grundeinkommen entspricht einem radikalen Neuanfang. Aber nein, es ist kein unkalkulierbarer Sprung ohne Auffangnetz. Denn letztlich ist das Grundeinkommen im Kern nichts anderes als eine fundamentale Steuerreform. Es bündelt alle sozialpolitischen Maßnahmen in einem einzigen Instrument, dem bedingungslos ausbezahlten Grundeinkommen. Die konkrete Ausarbeitung – also die politisch zu bestimmende Höhe des Existenzminimums, die der Höhe des Grundeinkommens entspricht – bietet genügend Freiraum für spezifische Anpassungen an heute noch unbekannte neue Herausforderungen der Zukunft.  Das bedingungslose Grundeinkommen folgt einer einfachen Logik. Es verzichtet auf ein mehrspuriges Gewirr von über Steuern und Abgaben aus dem Arbeitseinkommen finanzierten Sozialversicherungen und sozialpolitischen Maßnahmen. Stattdessen verrechnet es als Universalzahlung alle personenbezogenen Sozialtransfers und folgt dem Konzept einer negativen Einkommensteuer. Das heißt, alle erhalten vom Staat zunächst einmal Geld, was aus staatlicher Sicht einem Abfluss und damit dem Gegenteil eines Steuerzuflusses entspricht.

Ohje. Ohje, ohje, ohje. Mir schwant übles, wenn ich sowas lese. Und ehrlichgesagt frage ich mich, was in Köpfen vorgeht, die bei sowas nicht sofort die Augenbraue hochziehen.

Wer da nicht zusammenzuckt, sollte vielleicht mal einen Blick darauf werfen, was „alle sozialpolitischen Maßnahmen“ so bedeutet, z.B. in dieser Übersicht der Sozialgesetzgebung, oder dieser detaillierten Liste an Sozialleistungen aus dem SGB I. Und dann machen wir uns mal den Spaß und denken uns „das ist jetzt alles weg, stattdessen gibt’s ALG II ohne Sanktionen mit nem Kombi-Lohn, falls man noch irgendwie Geld verdient“.

Aber alle, die Einkommen erwirtschaften – und eben auch die Eigentümer der Roboter –, zahlen gleichermaßen auf alle Einkommen Steuern – und zwar an der Quelle, vom ersten Euro an. Somit zeigt sich, dass auch weiterhin am Ende (also im Saldo, der die Steuerzahlungen mit dem Grundeinkommen verrechnet) der größte Teil der Bevölkerung aus der Sicht des Staates positive Steuern bezahlt.


Hier wird ausgeführt, dass wir es mit einem Steuersystem ohne Freibeträge zu tun haben. Natürlich ergibt sich durch den Rückfluss per BGE ein faktisch steuerfreier Betrag, allerdings ist das so nicht unbedingt eine Bürokratievereinfachung. Bisher kann man bei Einkünften unterhalb von Freibeträgen relativ gelassen sein, so muss man sich aber schon ab dem ersten Euro mit dem Finanzamt auseinandersetzen.

Spaßig wird hier auch die Abgrenzung, wer ein Grundeinkommen bekommt. Die Antwort „alle“ würde ca. 7,5 Milliarden Menschen bedeuten und kann daher eher nicht die Antwort sein. Wie versteuert nun aber ein Ausländer, der in Deutschland einen Job/Auftrag erledigt? Bekommt er dann auch ein BGE? Auch wenn er vielleicht nur ein paar Tage in Deutschland war? Was wenn er dauerhaft in Deutschland lebt? Diese Fragen sind nicht trivial. Dass jemand das mal auseinandergepuzzlet hätte, habe ich aber noch nie irgendwo gesehen.

Wichtig dabei ist, dass der Staat Kapitalerträge genauso wie das Arbeitseinkommen besteuert. Das gilt auch für die mithilfe von Robotern erwirtschafteten Gewinne. Sobald sie an die Eigentümer der Roboter (also die Aktionäre oder Gesellschafter) ausgeschüttet werden, gelangt an der Quelle der gleiche Steuersatz wie für den Lohn der Arbeit zur Anwendung.


Roboter Roboter Roboter Roboter. Ich glaube hier hat jemand einen Roboter-Fetisch. Es geht hier um die Abschaffung der Abgeltungssteuer und die Besteuerung von Kapitaleinkünften wie die Einkommenssteuer. Darüber kann man sicherlich nachdenken, es hat aber per se nicht viel mit dem BGE zu tun. Außerdem gibt es ja auch Gründe, warum das beides zur Zeit nicht gleich besteuert wird. Das ist eine Diskussion für sich, genau wie bei allen anderen Einkunftsarten, die er auch alle über einen Kamm scheren will. Dazu kommt noch, dass alle Aktionäre von deutschen Firmen weltweit dann mit in dieses System integriert sind. Haben die dann auch alle Anspruch auf deutsches BGE?

Außerdem wird hier wieder suggeriert, dass die Wertschöpfung von Robotern das Unternehmen nur per Gewinnausschüttung an die Kapitalgeber verlässt. Das ist einfach falsch. Was glaubt der eigentlich, wodurch Gehaltserhöhungen entstehen? Dadurch, dass sich die Mitarbeiter jedes Jahr ein bisschen mehr anstrengen? Nein, die höhere Produktivität der Mitarbeiter durch den Einsatz von Maschinen, Robotern und Software sind auch die Grundlage für steigende Gehälter der Mitarbeiter, sofern sie zu Mehreinnahmen für die Firma führen, und werden als solche auch versteuert und für die Sozialversicherungen herangezogen.

Das Grundeinkommen sichert für alle, vom Säugling bis zum Greis, für Frau und Mann, von der Wiege bis zur Bahre, das Existenzminimum durch eine staatliche Geldzahlung. Nicht mehr, nicht weniger.

Der Sozialstaat, der damit offenbar ersetzt werden soll, tut bisher aber seeehr viel mehr als das. Ich empfehle nochmal den Blick auf die oben verlinkten Listen der Sozialleistungen.

Wem die Lebensqualität auf Höhe des Existenzminimums nicht genügt, muss selbstverantwortlich durch eigene Anstrengung eigenes Einkommen erwirtschaften. Und dabei gilt auch weiterhin: Wer Einkommen erzielt, bezahlt Steuern. Und ebenso gilt: Wer mehr verdient, zahlt mehr Steuern als derjenige, der weniger verdient.


Genau, wer mal medizinische Versorgung braucht, zu krank oder zu alt ist um zu arbeiten, oder kurzfristig seinen Job verliert, der soll sich halt einfach mal mehr anstrengen. Da blitzt sie auf, die INSM-Denke und wie man sich dort den Sozialstaat vorstellt.

Wer jetzt aufschreit, das wäre ja gar nicht so gemeint, wird praktischerweise gleich im nächsten Absatz bedient.

Das Grundeinkommen ist weder ungerecht noch unnötig  Das Grundeinkommen ersetzt alle heute bestehenden sozialpolitischen Transfers, also Rentenzahlungen, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe u. a. Andererseits muss auch niemand mehr Sozialabgaben leisten, denn die entfallen komplett. Es gibt neben dem über Steuern finanzierten Grundeinkommen keine durch Lohnabgaben gespeiste sozialstaatliche Parallelstruktur mehr.

Ich kann ja auch nichts dafür, dass das da steht, aber es steht halt da. Die Renten- und Arbeitslosenversicherung benennt er sogar explizit.

Ich weiß ja, dass es sehr im Trend liegt immer wieder zu wiederholen, dass wir ja alle eh keine Rente mehr bekommen, aber damit fange ich besser gar nicht erst an, sonst muss ich mich in meiner Aufregung gleich noch mehr aufregen und zwar schon wieder über euch. Halten wir einfach fest, dass es sehr wohl Menschen gibt, die eine staatliche Rente über der Grundsicherung erhalten und dass es das auch in Zukunft noch geben wird, falls die Leute, die behaupten das gäbe es eh nicht mehr, die bis dahin nicht selbst abschaffen und damit ihre eigene Dystopie selbt wahr machen. Die Rente wird in den Vorstellungen von Herrn Straubhaar einfach komplett und ersatzlos gestrichen. Damit wird die gesamte Mittelschicht im Rentenalter per Default einfach mal in die Unterschicht verschoben, so als gäbe es heute schon keine staatliche Rente mehr und es bekämen halt alle einfach Grundsicherung im Alter. Das soll eure sozialpolitische Utopie sein? Echt jetzt? Sonst ist aber alles noch frisch, ja?

Die Arbeitslosenversicherung soll ebenfalls ersatzlos gestrichen werden. Haha, geil. Erzählt das mal jemandem, der seinen Job gerade verloren hat, oder dessen Arbeitgeber bankrott gegangen ist, dass er seine Rechnungen, die Miete, usw. ab sofort vom Existenzminimum bezahlen darf. Ich würde vorschlagen alle lesen nochmal nach, was die Arbeitslosenversicherung ist und warum es diese gibt, bevor wir lustig ihre Abschaffung bejubeln.

Darüber, wie er sich die Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung vorstellt ohne, you know, Sozialversicherungen…, verliert Straubhaar hier kein Wort. Ich schätze mal er wird wissen warum.

Damit wird der Anachronismus beseitigt, dass heutzutage nur für einen Teil der Bevölkerung bis zu einer gedeckelten Beitragsbemessungsgrenze eine Sozialversicherungspflicht gilt – nämlich für die unselbstständig Beschäftigten –, für alle anderen aber nicht. Genauso wenig wird heute die Wertschöpfung der Roboter in die Solidarpflicht der Sozialversicherungen genommen.


Dazu, wie man die Basis der Sozialversicherungsbeiträge ausdehnen kann, gibt es völlig unabhängig von einem BGE bereits viele Ansätze und Ideen. Dazu muss man nicht das komplette Sozialversicherungssystem nahezu ersatzlos abschaffen…

Und ich glaube inzwischen, dass der Text das Märchen, dass Wertschöpfung durch Roboter keinen Beitrag zu den Sozialsystemen leisten würden, nur deshalb gefühlte 20x wiederholt, um ganz gezielt mich zu ärgern. Neben dem Abfluss dieser Wertschöpfung über Löhne und Gehälter gibt es übrigens auch aus dem allgemeinen Steuertopf jetzt bereits Quersubventionierungen in die Sozialsysteme. Die Ökosteuer wurde z.B. auch für diesen Zweck eingeführt. Die Älteren erinnern sich vielleicht. Mal ganz abgesehen davon sind die meisten Leistungen, die das BGE tatsächlich ersetzen würde, wie das ALG II, das Kindergeld, BAFöG, usw. ohnehin auch jetzt bereits steuerfinanziert. Die hier vorgeschlagenen Umstellungen, würden nicht weitere Einkünfte in die Finanzierung der Sozialsysteme mit einbeziehen, sondern weitestgehend einfach alle durch Sozialversicherungsbeiträge finanzierten Leistungen einfach abschaffen und überhaupt nur die ohnehin steuerfinanzierten übrig lassen. genius.jpg

[An dieser Stelle wird im Text abstrakt erklärt, wie das Verhältnis von BGE zu Einkommensteuer Netto-Zahler und Netto-Empfänger hervorbringt. Das ist in dieser Abstraktheit eher mathematischer Natur, darum überspringe ich das hier.]

Wie viel Steuern der Besserverdienende mehr zahlen soll als der Geringverdienende, damit unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprochen wird, ist eine Frage, die politisch beantwortet werden muss. Mit dem Grundeinkommen an sich hat das nichts zu tun. Es ist lediglich das Instrument zur Umsetzung politischer Entscheidungen.  
Offensichtlich wird, dass die Höhe des Grundeinkommens und der Steuersatz die Stellschrauben sind, mit denen Politik und Bevölkerung das neue Sozialsystem steuern können. Dabei gilt es, zwischen Gerechtigkeitszielen und Anreizeffekten ein vernünftiges Gleichgewicht zu finden. Diese Abwägung ist weder spezifisch für das Grundeinkommen noch eine neue Problematik. Sie ist in jedem Falle mit jeder Form von Sozialpolitik verbunden.  
Zwischen den Arbeitsanreizen jener, die staatliche Unterstützung erhalten, und den Leistungsanreizen der anderen, die staatliche Transfers durch Steuern zu finanzieren haben, besteht ein Spannungsfeld – immer, nicht nur beim Grundeinkommen. Ein hohes Grundeinkommen macht hohe Steuersätze erforderlich. Dadurch werden Anreize zu eigener Leistung geschmälert. Erwerbsarbeit wird dann weniger attraktiv. Ein niedriges Grundeinkommen lässt sich mit niedrigen Steuersätzen finanzieren. Eine geringe Steuerbelastung wirkt sich positiv auf die Leistungsanreize aus. Erwerbsarbeit wird erstrebenswerter.


Das ist im Prinzip richtig. Allerdings hat man damit die vielen Stellschrauben des Sozialstaats auf genau zwei reduziert. Was sich erstmal wie eine tolle Vereinfachung anhört, ist bei näherer Betrachtung aber eine krasse Selbstbeschränkung. Die Komplexität unseres Sozialstaats resultiert ja nicht aus böser Absicht heraus. Sie erlaubt Differenziertheit. Sie erlaubt auch unterschiedlichen Interessensgruppen um unterschiedliche Stellschrauben zu ringen und das System auf vielfache Art einem Fine-Tuning zu unterziehen. Das wäre hiermit dann einfach komplett weg. Das ist kein Fortschritt, das ist Mist.

Neu ist, dass beim Grundeinkommen das gesamte Einkommen gleichermaßen an der Quelle der Entstehung besteuert wird. Und zwar vom ersten bis zum letzten Euro mit dem gleichen Steuersatz. Beamte, Selbstständige sowie Kapitalerträge, Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Mieteinkommen etc. werden genauso wie die Löhne der Unselbstständigen oder die mit Robotern erzielten Unternehmensgewinne in die Solidarpflicht eingebunden. Sozialpolitik geht alle an. Deshalb müssen alle Einkommensquellen ihren Beitrag zur Finanzierung des Sozialstaates leisten – auch die (Eigentümer der) Roboter.

Oh, der Roboter-Fetisch ist sogar das Abschluss-Argument. Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn das Argument, das einem in einem Text durchgängig in den Kopf gehämmert wird, derart irreführend und untauglich ist.

Nebenbei wird hier noch mal eben eine Flat-Tax mit eingeführt. Wenn man schon mal dabei ist, kann man’s ja gleich mitnehmen. Da „Grundeinkommen“ drüber steht, werden’s schon alle geil finden. Und ja, ich weiß, dass sich in Verbindung mit einem Grundeinkommen eine (leichte) Progression ergibt, aber das passiert durch den aktuellen Freibetrag auch und wir haben trotzdem zusätzlich noch eine Progression im Steuersatz. Das ist zwar im Grunde auch wieder eine völlig eigene Diskussion, aber seid ihr euch denn wirklich sicher, dass ihr auf der Flat-Tax-Seite stehen wollt? Ja? Aha…

Fazit

Alles in allem haben wir es bei diesem BGE-Konzept, wie es hier nun in diesem Text skizziert ist, wahrscheinlich mit dem krassesten Sozialabbau in der Geschichte des Sozialstaats überhaupt zu tun. Unsere Sozialsysteme sollen links und rechts einfach völlig umgeholzt werden, stattdessen gibt es HartzIV für alle, aber hey, immerhin ohne Sanktionen. Ich bin wirklich immer noch erstaunt, dass so viele von euch einen solchen Kahlschlag anscheinend geil finden. Ich bin quasi so sauer, ich habe sogar einen Text geschrieben…

Zum Abschluss machen wir uns alle jetzt noch den Spaß und lesen mal den „Hamburger Appell“. Diesen hat Thomas Straubhaar im Jahre 2005 an die Politik gerichtet (übrigens zusammen verfasst u.A. mit Bernd Lucke). Im Volltext (PDF) gibt es 11 Punkte, wovon vor allem Punkt 3, 4 und 7 hier interessant sind.

In den Punkten 3 und 4 soll das Lohn-Niveau ordentlich in den Keller geschraubt werden. Wer dadurch verarmt, der soll halt Lohnzuschüsse bekommen. Damals lief diese Diskussion noch unter dem Stichwort Kombi-Lohn, allerdings beschreibt Straubhaars Text über das BGE exakt einen solchen Mechanismus. Niedriglöhne werden bei dieser Art der Umsetzung vom Staat subventioniert. An das Arbeitslosengeld und die Rente wollte er damals bereits die Axt anlegen, wie man sieht. Punkt 7 verlangt nochmal explizit das Zusammenstreichen der sozialen Sicherungssysteme.

Im Kern entspricht der damalige Appell bereits dem, was Straubhaar heute so vorschlägt. Er hat aber offenbar dazugelernt, den neoliberalen Dampfhammer nicht mehr ganz so offensichtlich vor sich her zu tragen und seinen sozialen Kahlschlag lieber „BGE“ zu nennen. Das erschließt offensichtlich eine ganz neue Fanbase, z.B., aus welchen wirren Gründen auch immer, offenbar weite Teile der Piratenpartei. Dieses Re-Branding ist schon schlau von ihm, weniger schlau ist es allerdings darauf hereinzufallen.

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Das Hamburger Wahlrecht ist unbeliebt bei den großen Parteien. Im Jahr 2004 wurde es durch einen Volksentscheid eingeführt, danach mehrfach wieder zurückgeschraubt und Rücknahmen durch das Hamburgische Verfassungsgericht und den Druck eines erneuten erfolgreichen Volksbegehrens zum Teil wieder revidiert. Den jetzigen Zustand hat die Bürgerschaft also nicht gerade freiwillig herbeigeführt und so wird auch immer wieder versucht das Wahlrecht zu attackieren, um es erneut zurückschrauben zu können. Beliebtester Angriffspunkt ist die Behauptung, dass das Wahlrecht zu kompliziert für die Einwohner Hamburgs wäre.

Die Ablehnung der großen Parteien ist nicht verwunderlich, denn das Wahlrecht entzieht ihnen defakto die Möglichkeit sich ihre Abgeordneten im Rahmen ihres Wahlerfolgs vollständig selbst aussuchen zu können. Statt innerparteilicher Deals und Absprachen haben die Wähler selbst das letzte Wort, von wem sie vertreten werden wollen.

Der neuste Angriffspunkt nach der jüngsten Wahl ist nun, dass das Wahlrecht angeblich dazu geführt hätte, dass „fast alle Fachleute einer Fraktion aus dem Parlament gewählt“ worden seien. Gemeint ist die CDU. Wir sehen mal darüber hinweg, was das durch die Blume über die Qualität der stattdessen gewählten Kandidaten aussagt und beschäftigen uns mit den genannten Beispielen. Aus der CDU-Fraktion sollen Finanzexperte Roland Heintze (trotz Listenplatz 2) und Wirtschaftsexperte Hjalmar Stemmann dem Wahlrecht zum Opfer gefallen sein, in der SPD-Fraktion der Schul-Experte Lars Holster. Außerdem sollen laut diesem Text im Zeit-Blog irgendwelche ungenannten CDU-Verkehrsexperten es ebenfalls nicht in die Bürgerschaft geschafft haben. Der bisherige CDU-Verkehrsexperte Klaus-Peter Hesse trat allerdings bei dieser Wahl gar nicht mehr an. Gemeint sein könnten eventuell Christoph de Vries oder Christoph Ploß.

Die hamburgische Bürgerschaft besteht aus 121 Abgeordneten, davon 58x SPD, 20x CDU, 14x Grüne, 10x Linke, 9x FDP, 8x AfD und 2 fraktionslosen, die über das Ticket der Grünen und der Linken in die Bürgerschaft eingezogen sind. Eine Liste aller Abgeordneten und über welchen Mechanismus des Wahlrechts sie in die Bürgerschaft eingezogen sind, kann hier (PDF) angeschaut werden. 71 der Abgeordneten sind über die 17 Wahlkreise sozusagen als gewählte Direktkandidaten eingezogen, die anderen 50 über die Parteilisten. Zum Vergleich: von den 631 Bundestagsabgeordneten sind 299 Direktkandidaten, 299 Listenkandidaten und 33 weitere Überhang- und Ausgleichsmandate, also ebenfalls von den Listen. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass bei der Bundestagswahl jeder Wahlkreis nur einen Gewinner hat, in Hamburg ziehen je nach Größe 3 bis 5 Personen pro Wahlkreis ein. Die Wahlkreise selbst sind also bereits so eine Art kleine Listenwahl.

Die Verteilung zwischen Wahlkreiskandidaten und Listenkandidaten pro Partei sieht wie folgt aus:

Partei Ergebnis Wahlkreisabgeordnete Listenabgeordnete
SPD 45,6% 35 23
CDU 15,9% 18 2
GRÜNE 12,3% 13 2
DIE LINKE 8,5% 4 7
FDP 7,4% 1 8
AfD 6,1% 0 8

Auffällig dabei ist, dass bei der CDU und den Grünen relativ wenige Listenplätze zum Zuge gekommen sind.
 

Auswirkung der Wahlkreislisten

 

Um die Auswirkungen der Wahlkreislisten auf die Verteilung der Mandate zu untersuchen, machen wir ein kleines Experiment. Wir nehmen eine zusätzliche Partei an, die Stimmen bekommen hätte, die bei der echten Wahl als Nichtwähler verlorengegangen sind. Wir nennen diese fiktive Partei mal die „Wikingerpartei“. Das Ergebnis der Wahl bleibt also in allen Punkten genau gleich, nur eine Partei mit zusätzlichen Stimmen kommt dazu. Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass diese Partei ihre Stimmen gleichmäßig in der ganzen Stadt und in gleicher Zahl für Wahlkreislisten und die Landesliste bekommen hätte.

Ab einem Ergebnis von 5% wäre die Wikingerpartei in die Bürgerschaft eingezogen und hätte 6 Mandate für ihre Landesliste bekommen, keine Wahlkreismandate. 6% hätten bereits 8 Mandate eingebracht. Ab 8,3% wäre das erste Wahlkreismandat aus dem Wahlkreis 15 Bergedorf von der SPD übernommen worden, dazu 9 weitere Listenmandate. Interessanterweise waren einige Wahlkreismandate in 4-Mandate-Wahlkreisen einfacher zu holen als so manches Mandat in 5-Mandate-Wahlkreisen. Mit 8,5% bekommt die Wikingerpartei ein Mandat im Wahlkreis 13 Alstertal – Walddörfer, danach kommen aber schon die 4er-Wahlkreis 14 Rahlstedt (ab 8,8%) und dann Wahlkreis 12 Bramfeld – Farmsen-Berne (ab 9,1%), ebenfalls ein 4er-Wahlkreis. Ich habe den Verlauf der Mandatsverteilung bis zu einem Ergebnis von 40% mal hier aufgezeichnet:

Mandate_Wikingerpartei

Im Bereich von 13% hätte diese Partei nur ein einziges Mandat von ihrer Liste bekommen. Bei 14% für die Wikinger wäre es als Nebeneffekt für die CDU sogar dazu gekommen, dass diese gar kein Listen- und nur noch Wahlkreismandate bekommen hätte. Das hätte interessanterweise sogar Dietrich Wersich persönlich das Mandat gekostet, da er in keinem Wahlkreis angetreten ist. Ab 18% macht die Kurve einen kleine Sprung, was daran liegt, dass die zusätzliche Wahlbeteiligung die AfD unter die 5%-Hürde gedrückt hätte. Das selbe passiert bei 33% mit der FDP, wobei diese das Wahlkreismandat von Katja Suding behalten hätte. (Ich habe im Nachhinein festgestellt, dass ein solches Mandat für Frau Suding die Bürgerschaft nach §5(3) BüWG auf 123 Sitze vergrößert hätte, bin aber zu bequem deswegen jetzt alle Grafiken neu zu machen. ;))

Man sieht nun also einen relativ schmalen Bereich, in dem kaum Listenmandate vergeben werden. Hier nochmal die Grafik mit den anderen Parteien und ihren tatsächlichen Ergebnissen:

Mandate_Wikingerpartei_2

Man sieht dabei schön, wie die Grünen den Anfang und die CDU das Ende der Engstelle getroffen haben. Bei der CDU kam erschwerend hinzu, dass sie kurz vor der Wahl in der Wählergunst noch auf 15,9% abgesackt sind, sich das aber auf die Wahlkreise weniger stark ausgewirkt hat, wo sie hamburgweit 19,7% gehalten haben. Je 1 Mandat in allen 17 Wahlkreisen waren zwar ungefährdet, aber dieser Umstand hat ihnen im Wahlkreis 13 Alstertal – Walddörfer knapp ihr 18. Wahlkreismandat beschert. Der erfolgreiche Einzug der AfD und der FDP haben diesen Effekt ebenfalls verstärkt, weil diese insgesamt 17 Mandate von den anderen Parteien abgezogen haben, aber die Wahlkreismandate der anderen Parteien nur um eins, das von Katja Suding, gesenkt haben.

Rein zum Test habe ich mal alle Wahlkreise auf 3-Mandate-Wahlkreise verkleinert und so die Gesamtzahl der Wahlkreismandate auf 51 gesenkt, womit 70 auf die Landeslisten entfallen. Der Effekt wird dadurch ein wenig verkleinert, es gibt aber nach wie vor eine solche Engstelle. Im Bereich von 13% bis 16% erreicht die Wikingerpartei hier je ein Wahlkreismandat pro Wahlkreis und hat dann auch erstmal nur noch 4 Listenmandate.

Mandate_Wikingerpartei_3er

Eine weitere Eingriffsmöglichkeit wäre es die Bürgerschaft auf insgesamt 150 Abgeordnete zu vergrößern. Dadurch ergäbe sich ein Verhältnis von 71 Wahlkreismandaten zu 79 Listenmandaten. Die Wahlkreismandate würden gleich bleiben, aber auch im Bereich der Engstelle wären weiterhin mindestens 5, meistens etwas mehr Listenmandate mit drin.

Mandate_Wikingerpartei_150

Es ist also tatsächlich so, dass der Zuschnitt und die Aufteilung der Wahlkreise dazu führen können, dass die Zahl der gewählten Listenkandidaten nahe an Null herangeht. Nach ein wenig Recherche stellt sich mir das so dar, dass es ein gewollter Effekt des Wahlrechts war vor allem Wahlkreiskandidaten in die Bürgerschaft zu bekommen. Mal abgesehen davon, dass man dieses Ziel grundsätzlich in Frage stellen kann, wirkt sich das Wahlrecht aber auch nur dementsprechend aus, wenn die Partei so grob in einem Ergebnis von 11% bis 16% liegt. Einen wirklichen Sinn kann ich dahinter nicht erkennen. Das ist weder Fisch noch Fleisch. Ich finde es auch sehr bedauerlich, dass das die Möglichkeiten des personalisierten Wahlrechts wieder stark einschränkt. Die Möglichkeit Listenkandidaten, die mir sehr zusagen, von jedem Listenplatz in die Bürgerschaft hineinwählen zu können, finde ich absolut großartig, hilft mir aber nicht, wenn von der zugehörigen Partei fast keine Kandidaten von der Landesliste zum Zuge kommen.

Für den konkreten Fall der CDU stellt sich allerdings die Frage, warum sie ihre Experten nicht in den passenden Wahlkreisen aufgestellt haben, wenn diese doch so wichtig sind. Für Herrn Roland Heintze auf Listenplatz 2 hätte es z.B. schon gereicht, wenn die CDU ihren Spitzenkandidaten Dietrich Wersich in seinem Wahlkreis aufgestellt hätten. Dann wäre Heintze auf der Landesliste als erster zum Zuge gekommen und säße jetzt in der Bürgerschaft. Das verlorene Mandat erhielt Herr Heintze (der neuerdings übrigens Parteivorsitzender der Hamburger CDU ist) 2011 noch aus dem Wahlkreis 07 Lokstedt – Niendorf – Schnelsen. Dort trat Herr Heintze 2015 nicht mehr an und machte Platz für Carsten Ovens (übrigens Vorsitzender der Jungen Union Hamburg).

Die Grünen haben 15 Mandate errungen. 10 davon gingen an Personen, die in der Top15 ihrer Landesliste standen, aber in ihrem jeweiligen Wahlkreis gewählt wurden, eine weitere Person ist knapp im Wahlkreis gescheitert und noch eine weitere trat zwar an, wurde von ihrer Partei aber überraschend nicht im Wahlkreis aufgestellt. Für die meisten vorderen Listenplätze war es also egal, ob Wahlkreis- oder Landeslistenkandidaten zum Zuge kommen. Kein einziger auf der Landesliste der CDU war auch Spitzenkandidat der CDU in einem Wahlkreis, übrigens bei der SPD auch nicht. Beide haben also je 17 defakto sichere Wahlkreismandate (bei der SPD eher mehr) an andere Personen vergeben und ihrer Landesliste nur den Rest überlassen. Der inzwischen vermisste Hjalmar Stemmann erhielt sein Mandat 2011 sehr knapp über das letzte zu vergebende Mandat über Personenstimmen auf der Landesliste. Um solche Plätze wieder in die Bürgerschaft zu bekommen, hätte die CDU nunmal ein besseres Wahlergebnis erhalten müssen. Auf eine Absicherungsstrategie für die betroffenen Personen, wie bei den Grünen, hat die CDU verzichtet. Christoph de Vries und Christoph Plöß wurden auf den Listenplätzen 5 und 8 ebenfalls das schlechte Wahlergebnis und die fehlende Absicherung zum Verhängnis. Der vermisste Abgeordnete der SPD, Lars Holster, hätte sich vielleicht eher um einen besseren Listenplatz als den 60. bemühen sollen, aber dazu später mehr.

Dennoch halte ich es nicht für glücklich, dass das Wahlrecht so eine Art Todeszone für Listenkandidaten produziert und würde für eine Änderung plädieren. Eine Homogenisierung der Wahlkreise scheint mir nicht wünschenswert, da man damit einen sprunghaften Anstieg der Wahlkreismandate in einer noch engeren Prozente-Zone schafft. Außerdem würde sich der Zuschnitt der Wahlkreise schwierig gestalten und anfällig werden für Gerrymandering. Eine Anpassung des Verhältnisses von Wahlkreismandaten zu Landeslistenmandaten scheint mir aber wünschenswert. Dies geht durch eine allgemeine Reduzierung der Wahlkreismandate pro Einwohner, eine Vergrößerung der Bürgerschaft, oder beides. Ich würde präferieren den Zuschnitt der Wahlkreise danach auszurichten, dass ein möglichst stufenloser Anstieg der Wahlkreismandate je nach Wahlerfolg auftritt, bei insgesamt geringerer Mandatezahl. Eine leichte Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise kann dazu auch beitragen. Zusätzlich könnte man eine moderate Vergrößerung der Bürgerschaft vornehmen.
 

Auswirkung der Personenstimmen

 

Der zweite Kritikpunkt am Wahlrecht liegt darin, dass die Wähler durch ihre Stimmen die Reihenfolge der zum Zuge kommenden Kandidaten auf den Listen verändern können. Dieser Punkt ist den Parteien ein besonders großer Dorn im Auge, da es ihre innerparteilichen Deals zwischen den eigenen Machtzentren stört. Aber wie wirkte sich dies nun auf die Zusammensetzung der Bürgerschaft aus?

Zuerst einmal bleibt festzuhalten, dass von den 71 Wahlkreismandaten 68 in der von den Parteien vorgegebenen Reihenfolgen vergeben wurden. Lediglich drei mal bekam eine Person von weiter hinten das jeweils zweite Mandat für die SPD in den Wahlkreisen 04, 07 und 13. Kein einziger Wahlkreis-Spitzenkandidat hat sein Mandat von jemand anderem abgeluchst bekommen und es gibt auch keinen Fall, bei dem das Ergebnis nah dran war.

Von den 50 Listenmandaten wurden 26 entsprechend der Listenreihenfolge der Parteien vergeben. Die Wähler haben nämlich durchaus die Möglichkeit bei der Wahl bewusst zu entscheiden, dass die Auswahl der Kandidaten durch der Partei zum Zuge kommen soll und hat diese sogar etwas stärker genutzt, als überhaupt von der direkten Personenwahl Gebrauch zu machen. Die verbliebenen 24 Mandate, die nach Personenstimmen vergeben wurden, unterschieden sich in 9 Fällen nicht von dem Ergebnis, dass eine reine Listenwahl hervorgebracht hätte. Durch den Mandsverzicht eines FDP-Kandidaten unterscheidet es sich im Nichhinein sogar bei 10 Mandaten nicht mehr.

Partei Durch Wahlkreis Durch Listenreihenfolge Durch Personenstimmen, die der Listenreihenfolge entsprechen Durch Personenstimmen ausgetauscht
SPD 35 10 6 7
CDU 18 1 0 1
GRÜNE 13 1 0 1
DIE LINKE 4 4 2 1
FDP 1 4 1 (2) 3 (2)
AfD 0 6 0 2

 

Von den 121 Abgeordneten in der Bürgerschaft wurden also lediglich 15 Kandidaten der Landeslisten über die Personenstimmen ins Parlament gebracht (später dann 14) und 3 weitere, wie oben erwähnt, über Personenstimmen bei den Wahlkreisen. Tim Stoberock aus Wahlkreis 13 wäre ohne Personenstimmen allerdings statt über das Wahlkreismandat dann eben über die Landesliste eingezogen. Insgesamt hat das Wahlrecht über die Personenstimmen also 17 Kandidaten das Mandat gekostet und durch 17 andere (bzw. nachträglich dann eben 16), durch die Bürger handverlesene Kandidaten ersetzt. Das klingt nicht unbedingt nach einer Dimension, die zu ernsthaftem, ungewollten Know-How-Verlust in der Bürgerschaft führt.

Der Fall des vermissten Lars Holster ist allerdings ein besonderer, da die SPD ihn auf den letzten Listenplatz ihrer Landesliste platziert hat (Platz 60). Nach der Bürgerschaftswahl 2011 kam die Kritik am Wahlrecht auf, dass es dazu führen würde, dass viele Wähler aus Spaß, Mitleid oder sonstiger politikferner Motivation heraus ihre Stimmen an den letzten Listenplatz geben würden. Die letztplatzierte Kandidatin der SPD bei der Bürgerschaftswahl 2011, Isabella Vértes-Schütter auf Platz 60, erhielt mit 8147 Stimmen ein sehr gutes Personenergebnis und damit das vierte Personenmandat für die SPD, siehe hier (PDF). Lars Holster zog damals von Listenplatz 29 mit 3304 Personenstimmen wesentlich knapper in die Bürgerschaft ein. Auf Listenplatz 60 erhielt er bei dieser Wahl allerdings nur noch 2246 Personenstimmen. Für einen Einzug in die Bürgerschaft wären 3437 Personenstimmen notwendig gewesen. Isabella Vértes-Schütter erhielt nun aber auf Listenplatz 11 mit 9208 Pesonenstimmen sogar das erste Personenmandat.

So wie es aussieht, hat sich die SPD mit Herrn Holster hier einfach verzockt. Tatsächlich war die Kritik am letzten Listenplatz bei der Wahl 2011 wohl bereits sachlich unzutreffend und das Ergebnis hatte wesentlich mehr mit der Person von Frau Vértes-Schütter zu tun, als mit psychologischen Effekten des letzten Listenplatzes. Diese Wahlrechtsanomalie war 2015 nicht mehr reproduzierbar. Kein letzter Listenplatz war auch nur nah dran ein Personenmandat zu ergattern. Wenn etwas Herrn Holster das Mandat gekostet hat, dann sicherlich nicht das Wahlrecht. Die Personenstimmen haben ihm sein Mandat 2011 überhaupt erst ermöglicht. Das fehlende Vertrauen in das Wahlrecht durch die SPD hat es ihn nun offenbar wieder gekostet. Die Grünen trauten dem Wahlrecht in diesem Punkt offenbar ebenfalls nicht und platzierten den langjährigen Abgeordneten Farid Müller auf den letzten Listenplatz. Diese waren aber immerhin so schlau Herrn Müller über den völlig ungefährdeten Wahlkreis 01 Hamburg-Mitte abzusichern.

Bei der Verteilung auf Listen- und Personenmandate fällt auf, dass die SPD überdurchschnittlich viele Personenmandate, die AfD überdurchschnittlich viele Listenmandate erhalten hat. Dies könnte darauf hindeuten, dass bei bekannten Personen deutlich mehr Gebrauch vom Personenwahlrecht gemacht wird. Hier bietet die bisherige Alleinregierung der SPD und die neue Partei der AfD auch den größten Kontrast. Bei der SPD hatte sicher auch der enorme persönliche Erfolg von Olaf Scholz einen großen Anteil daran. Dieser erhielt alleine mehr Personenstimmen, als die SPD Listenstimmen bekommen hat.

Für die Wahl von Herrn Scholz macht das keinen Unterschied, da Listenstimmen ja ihm als Listenplatz 1 ebenfalls zuerst zugute gekommen wären. Allerdings wirkt es sich darauf aus, ob weiter hinten dann Kandidaten nach Listenreihenfolge oder nach Personenstimmen zum Zuge kommen. Wären die Hälfte der Scholz-Stimmen stattdessen Listenstimmen gewesen, wären 15 statt 10 Listenmandate und 8 statt 13 Personenmandate in die Bürgerschaft gekommen. Da 4 der verlorenen Personenmandate aber ohnehin zu den nächsten 5 Listenplätzen gehören, hätte es sich personell nur bei einer Person ausgewirkt. Hauke Wagner hätte seinen Platz räumen müssen für Wolfgang Rose. Es ist allerdings ein wenig dem Zufall geschuldet, dass 4 der nächsten 5 Listenanwärter ohnehin auch Personenmandate bekommen haben. Die Auswirkung hätte auch stärker sein können.

Dass Stimmen für den Bürgermeister einen solchen Mandatstausch bei völlig anderen Personen bewirken können, ist für den Wähler nicht unbedingt intuitiv. Das ist allerdings auch dem Umstand geschuldet, dass die Parteien unbedingt eine (ursprünglich nicht vorgesehene) Option zur unpersönlichen Listenwahl haben wollten. Die unterschiedliche Auswirkung der Personen- und Listenstimmen sollte den Wählern aber nochmal deutlicher bekannt gemacht werden. Eine Personenstimme ist defakto immer auch ein Ausdruck des Misstrauens gegen die Listenreihenfolge, wie sie von der Partei festgelegt wurde, auch wenn man sie an vordere Listenkandidaten vergibt.

Bei der FDP gab es übrigens ebenfalls eine extreme Konzentration der Personenstimmen auf die Spitzenkandidatin. Katja Suding bekam fast so viele Personenstimmen, wie die Spitzenkandidaten der LINKE, Grüne und AfD zusammen. Dennoch hatte die FDP deutlich mehr Listenstimmen als Personenstimmen. Die Konzentration der eigentlich nicht besonders vielen Personenstimmen auf die Spitzenkandidatin führte hier dazu, dass Jennyfer Dutschke mit 1078 Personenstimmen das mit Abstand einfachste Personenmandat erhalten hat. Weil ein Kandidat der FDP seine Wahl nicht annahm, rückte später sogar noch Daniel Oetzel mit 1048 Personenstimmen nach.
 

Auswahl der Personen

 

Am schwierigsten zu bewerten ist wohl die konkrete Wahlentscheidung der Bürger im einzelnen. Die Behauptung das Wahlrecht hätte dazu geführt, dass die Zusammensetzung der Bürgerschaft nicht dem tatsächlichen Wählerwillen entsprechen würde, impliziert, dass man weiß, was die Wähler tatsächlich wollten. Es wäre bei allen vermissten Personen möglich gewesen, dass sie gewählt worden wären. Es fehlten ihnen dazu aber die notwendigen Stimmen.

Es ist natürlich schwierig zu sagen, warum die Wähler ihre Kreuze bei bestimmten Personen gemacht haben, aber da mir bei der Durchsicht des Resultats etwas aufgefallen ist, würde ich gerne zuletzt noch eine Hypothese überprüfen. Dafür analysiere ich die Google News Treffer (aus Deutschland) zu allen 15 über die Landesliste ins Parlament gewählten Kandidaten, die ohne Personenstimmen nicht dort gelandet wären. Ich nehme dazu den Zeitraum vom 01.01.2013 bis zum 14.02.2015 (den Tag vor der Wahl) und versuche die Artikel über Namensvetter herauszufiltern.

Gewählte Kandidaten

Farbliche Unterscheidung nach:

  • Skandale oder Skandälchen
  • Außerhalb der Politik
  • Politische Metathemen
  • Politisch Inhaltliches
Kandidat Hintergrund Stimmen Artikel Themen
Danial Ilkhanipour, SPD Ex-Juso-Chef und Kahrs-Mitarbeiter 5865 19 9x über seinen Machtkampf mit Niels Annen um eine Bundestagskandidatur 2009, außerdem 3x über eine SPD-Kollegin, die ihm deshalb ihre Stimme bei der Wahl verweigerte, 2x die fast gescheiterte Nominierung bei der aktuellen Wahl aus dem selben Grund, 2x Plakatzerstörungen durch einen SPD’ler aus dem Annen-Lager gegen sein Lager, 1x Machtkämpfe während dem Wahlkampf
1x zu seinen Wahlchancen
1x zu einer Veranstaltung mit ihm über Flüchtlingspolitik
Güngör Yilmaz, SPD Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt und Abgeordnete in der BV Bergedorf 4962 4 Alle Artikel auf türkisch.
2x Vorstellung türkischer Kanidaten zur Bezirkswahl Bergedorf und der Bürgerschaftswahl
2x Bericht über Besuche von Veranstaltungen
Hendrikje Blandow-Schlegel, SPD Rechtsanwältin und Mitbegründerin des Vereins „Flüchtlingsinitiative Harvestehude“ 4175 24 21x zur Flüchtlingsunterkunft Sophienterrassen
2x zur Anti-PEGIDA-Demo
1x zu ihren Wahlchancen
Markus Schreiber, SPD Ehemaliger Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte, nach Rücktritt Prokurist bei einer Baufirma 3954 65 25x zum Tod von Chantal bzw. dem Rücktritt als Bezirksamtsleiter deswegen
10x wegen dem umstrittenen Zaun zur Vertreibung von Obdachlosen an der Kerstin-Miles-Brücke
7x bzw 4x wegen Bauvorhaben in seinem neuen Job als Prokurist und seiner Tätigkeit bei der IG Steindamm
9x zu verschiedenen alten Vorhaben als Bezirksamtsleiter
2x zur politischen Karriere
4x zum Comeback und den Chancen mit dieser Listenkandidatur
2x zu seiner kritisierten Berufsbezeichnung „Bezirksamtsleiter a.D.“
1x Stellungnahme mit dem Hafen gegen PEGIDA
1x Besuch beim Neujahrsempfang der SPD Billstedt
Doris Müller, SPD Bürgerschaftsabgeordnete, vorher Krankenschwester 3941 8 2x bzw. 3x zu Nebenerwähnungen bei Machtkämpfen in der Harburger SPD zur Kreisvorstandswahl und Listenaufstellung
2x zu ihren Wahlchancen
1x in einer gemeinsamen Erklärung in der Bürgerschaft zu Investitionen in Harburg
Urs Tabbert, SPD Bürgerschaftsabgeordneter und rechtspolitischer Sprecher der SPD 3509 17 10x zu verschiedenen Aspekten von Gefängnissen und Sicherungsverwahrung
3x zu Personal im Justizbereich
4x zum Transparenzgesetz und Korruptionsregister
Hauke Wagner, SPD Sohn eines Ex-Bausenators, Ex-Juso-Landesvorsitzender, Vattenfall-Manager 3503 30 10x zur Berufsangabe als „Sanitäter“ obwohl er nur einen 48h-Kurs belegt hat
8x gescheiterte Kandidatur zum Juso-Bundesvorsitzenden
7x im Bereich der Tätigkeit als Vattenfall-Manager
2x zur Gründung eines Online-Ortsverbands und 1x zur Forderung von Politikinteresse
1x zu den Chancen seiner Listenkandidatur
1x zu seiner Rolle in SPD-Machtkämpfen zwischen Danial Ilkhanipur und Niels Annen
Joachim Lenders, CDU DPolG-Hamburg Vorsitzender, Stellvertretender Bundesvorsitzender der DPolG 9677 139 113x politische oder polizeiliche Äußerungen als DPolG-Vertreter
1x zur Wahl zum DPolG-Vorsitzenden
7x rechtliche Außeinandersetzungen mit Flora-Anwalt Beuth
3x zu Sponsoring der Partei durch RedBull
2x zum Vorwurf des Geheimnisverrats
1x zur Bundestagskandidatur 2013
5x zu seinem Vorwurf von Intrigen bei der Kandidatenaufstellung der CDU zur Bundestagswahl
5x politische Äußerungen im Wahlkampf
2x über seine Wahlchancen
Inge Hannemann, LINKE „HartzIV-Rebellin“ 7570 170 ca. 160x zu Aktivismus gegen HartzIV, ihren Rechtsstreit und ihre Petition (und in gefühlt jeder Kommentarspalte zu dem Thema)
9x zum Wechsel in die Politik bzw. Einzug in die Bezirksversammlung
1x über ihre Wahlchancen
Carl-Edgar Jarchow, FDP Bürgerschaftsabgeordneter (Innenpol. Sprecher) und HSV-Vorstandsvorsitzender 1647 411 ca. 330x zu Angelegenheiten des HSV
ca. 74x zu Rücktrittsforderungen, Rücktritt und juristischen Auseinandersetzungen darum
6x zu Gefahrengebieten, Linksextemer Gewalt und dem Rettungsmonopol der Feuerwehr
1x zu seinem Vorwurf der Untreue gegen einen FDP-Kollegen
Kurt Duwe, FDP Bürgerschaftsabgeordneter 1552 79 65x zu vielen verschiedenen politischen Themen, hauptsächlich Bauen, Umwelt, Verkehr, oft Verbunden mit kleinen/großen Anfragen
4x Besuch bei Podiumsdiskussionen und ähnlichem
1x Zu seinem Vorwurf der Untreue gegen einen FDP-Kollegen
8x zum Wahlantritt und den Chancen (auch Bundestagswahl)
1x zu seinem Verzicht auf Krawatten
Heico Fuhrmann, FDP Unternehmer 1294 0 Kein einziger Artikel
Nebahat Güclü, Grüne Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Hamburg 5624 41 19x zu ihrem umstrittenen Auftritt bei der Türkischen Föderation
19x zu Themen wie Radikalisierung von Muslimen, Asylheimbrand, Emanzpation türkischer Mädchen, …
2x zum Besuch einer Veranstaltung bzw. ihrer Kandidatur allgemein
1x über die Türkische Gemeinde Hamburg
Ludwig Flocken, AfD Arzt 1829 3 3x über einen Auftritt bei MVgida mit Rechtsaußen-Äußerungen
Alexander Wolf, AfD Jurist und Danubia-Mitglied 1705 4 3x zu seiner Mitgliedschaft in der rechtsextremen Burschenschaft Danubia
1x als Geschäftsführer von my green invest GmbH

 

Daraus ergeben sich drei wiederkehrende Muster, von denen zum Teil mehrere gleichzeitig zutreffen:

  • Ein Amtsbonus von bisherigen Bürgerschaftsabgeordneten, einer Bezirksabgeordneten (die auffällig viele Stimmen aus dem eigenen Bezirk bekam) und einem ehemaligen Bezirksamtsleiter. Das kann auf Zufriedenheit mit der bisherigen politischen Arbeit hindeuten.
  • Personen, die durch Aktivismus zu bestimmten Themen aufgefallen sind, sei es die Flüchtlingsunterkunft in Harvestehude, der Widerstand gegen HartzIV, politische Arbeit als Polizeigewerkschafter, das Engagement in der Türkischen Gemeinde Hamburg oder was auch immer das darstellen soll, was die Herren von der AfD gemacht haben.
  • Ein Bekanntheitsschub durch große oder kleine Skandale.

Lediglich der Unternehmer Heico Fuhrmann fällt hier aus der Reihe. Dieser kann sich seinen Erfolg aber offenbar selbst nicht so ganz erklären und nahm prompt sein Mandat gar nicht an. Carl-Edgar Jarchow zählte wohl auch vor den Turbulenzen des HSV bereits zur hamburger Prominenz.

Die Bestätigung der bisherigen parlamentarischen Arbeit durch die Wähler ist eine gute Möglichkeit die Zufriedenheit der Bürger mit ihren Repräsentaten zu steigern, auch wenn diese Personen in den Machtzirkeln ihrer Parteien nicht so hoch im Kurs stehen. Auch dass Personen, die mit ihrem (formellen oder informellen) politischen Aktivismus einen Nerv bei der Bevölkerung treffen, einen Weg in die Volksvertretung haben, kann für frischen Wind in den Parlamenten sorgen. Es öffnet sich dadurch eine kleine Pforte für Quereinsteiger, die nicht bereits durch die Macht-Mechanismen der Parteien vorgefiltert wurden.

Den Effekt von persönlichen Skandalen und Skandalisierungen auf das Wahlergebnis betrachte ich allerdings mit Sorge. In meinem ersten Eindruck hätte ich diesen Effekt sogar noch etwas größer vermutet, als er sich nach der genauen Analyse nun darstellt. Im großen und ganzen führt das Personenwahlrecht wohl zu einer Bereicherung des Parlaments. Einige Ausnahmen scheint es aber doch zu geben.

Es ist etwas schwierig zu bewerten, ob die Wahlerfolge der betroffenen Personen nun wirklich maßgeblich auf ihre Skandale zurückgeführt werden können. Es scheint aber doch so, dass die erhöhte Bekanntheit unter’m Strich eher nützt als schadet, frei nach dem Motto ‚any press is good press‘. Der Faktor ‚Bekanntheit‘ ist unabhängig vom inhaltlichen Profil von enormer Bedeutung bei einem Personenwahlrecht, mehr noch als ohnehin schon bei politischen Wahlen. Ich hoffe es gelingt in Zukunft mehr politische Akteure durch ihre konstruktive Arbeit für die Bürger Hamburgs zu Bekanntheit zu verhelfen. Hier stehen wohl auch die Medien ein Stück weit in der Pflicht ihre politische Berichterstattung nicht von Boulevard in den Hintergrund drängen zu lassen. Die Personenstimmen könnten dann auch für unsere vermissten Experten eine Chance für eine Rückkehr in die Bürgerschaft sein. Zumindest falls die CDU es schafft die dafür insgesamt notwendigen Wählerstimmen wieder einzusammeln, denn ohne Stimmen, gibt es auch keine Mandate.

 

PS:
Wer mag, kann gerne selbst ein wenig herumrechnen. Hier gibt es die OpenOffice Calc-Datei, die ich mir dafür gebaut habe. So 100% selbsterklärend ist sie leider nicht, aber mit einem Blick ins Gesetz über die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft sollte man damit klarkommen können. Wer irgendwo Fehler findet darf mir auch gerne Bescheid geben.

 
Nachtrag:

Ich habe die Idee des neuen Zuschnitts der Wahlkreise aus dem ersten Kommentar unten jetzt nochmal berechnet. Eine Reduzierung der Wahlkreise auf 15 mit insgesamt 57 Wahlkreismandaten ergibt folgenden Verlauf:

Mandate_Wikingerpartei_15WKs

Daraus ergibt sich eine relativ moderate Engstelle und bei mehr Prozenten eine ungefähr konstante Verteilung von 50:50 zwischen Wahlkreis- und Listenmandaten. Ich denke das sieht eigentlich recht gut aus, selbst ohne eine Vergrößerung der Bürgerschaft.

Griechenland ist pleite. Das ist nichts neues. Das sind sie schon seit ungefähr 2010. Aber sie sind eben immernoch pleite und das ist ein Problem. Vor allem ist es ein Problem für die Griechen, denen es in vielen Fällen ernsthaft beschissen geht, aber es ist auch ein Problem für Demokratie in Europa.

Also was ist da los? Ich weiß nicht wieviele von euch sich mit den Details dieser ganzen Sache beschäftigt haben. In den Medien wird vieles gerne mal verkürzt dargestellt oder salopp und damit unter Umständen irreführend formuliert. Das ist nicht unbedingt immer bösartig, denn ein Zeitungsartikel ist auch keine Wirtschaftsvorlesung, aber ein bisschen muss man sich mit der Materie beschäftigen, um das Problem für die Demokratie zu verstehen.

Zuerst einmal ist da das mit den Staatsschulden. Der Volksmund spricht gerne davon, dass diese Schulden ja eh nie wieder zurückgezahlt werden. Das ist so formuliert aber erstmal falsch. Alle Staaten zahlen alle ihre Schulden zurück und zwar meistens mit dem Geld aus neuen Schulden. Alles andere wäre ein Staatsbankrott. Ein Staat verkauft Staatsanleihen mit einer bestimmten Laufzeit und bestimmten Zinsen. Am Ende dieser Laufzeit, zahlt er das Geld zurück und nimmt neue Staatsanleihen auf. Der einzige Effekt, den das eigentlich hat, ist dass die damals vereinbarten Zinsen mit aktuell üblichen Zinsen ausgetauscht werden. Das kann mal gut sein oder halt schlecht. Griechenland hat solche Staatsanleihen, wie jeder Staat, massig an irgendwelche Banken, Pensionsfonds und weiß der Geier wen alles verkauft. Dieser Staat ist schon länger etwas wackelig finanziert und soll wohl eine Weile etwas unehrlich über seine Finanzsituation gewesen sein. Nach der ganzen Finanzkrise 2008 war es dann irgendwann so weit, dass besagte Banken das Risiko zu groß wurde Griechenland weiterhin Staatsanleihen abzukaufen. Die haben lieber deutsche Staatsanleihen genommen, weil sie da wussten, dass sie dieses Geld definitiv wiederbekommen. Mit Zinsen lassen sich Geldgeber ihr Risiko ausbezahlen, das sie eingehen. Griechische Staatsanleihen hatten da dann also eine niedrige Nachfrage und ein hohes Risiko. Das heißt wer auch immer überhaupt noch mutig genug gewesen wäre griechische Staatsanleihen zu kaufen, hätte dafür extrem hohe Zinsen genommen. Das hätte Griechenland aber nicht weiter geholfen, weil sie damit in einer Schuldenspirale gelandet wären und laufend neue Schulden aufnehmen hätten müssen, um überhaupt die Zinsen bezahlen zu können, was dann aber zu noch mehr Zinsen geführt hätte. Das Thema Staatsanleihen verkaufen war damit erstmal durch. Eigentlich ist das ein Staatsbankrott. Währenddessen wird das Geld, das die Griechen nicht mehr bekommen, unter anderem nach Deutschland umgeschichtet und wir bekommen Dank dieser gestiegenen Nachfrage hervorragende Konditionen. Wir profitieren auf diese Weise von der Krise und bekommen teilweise sogar negative Zinsen für unsere eigenen Staatsanleihen.

Auf einen Staatsbankrott von Griechenland hatten allerdings diverse Player keine Lust. Herr Varoufakis hätte es übrigens richtig gefunden, wie er in seinem inzwischen berühmten Stinkefinger-Video anschaulich erklärt. Die EU, die EZB und der Internationale Währungsfonds wollten das aber ebensowenig wie die damalige griechische Regierung. Das ganze wäre wahrscheinlich ähnlich abgelaufen, wie die Pleite der Lehmann Brothers Bank 2008. Das war damals kein Spaß und hat die gesamte Weltwirtschaft einmal heftig durchgeschüttelt. Eine Weile war nicht so ganz klar wer alles wieviel Geld bei Lehmann liegen hatte und wer durch den Totalverlust noch alles pleite gehen würde und wieder andere in die Pleite treiben würde. Allein die Amerikaner haben fast eine halbe Billion Dollar auf das Problem geworfen, um es in den Griff zu bekommen. So ganz ausgestanden war das auch 2010 noch nicht. Im Falle der Griechen hätte das Pleite-Domino gleich komplett Südeuropa mitnehmen können. Das wiederum kann niemand ernsthaft wollen. Es wird zwar gern davon gesprochen doch einfach „die Banken pleite gehen (zu) lassen“, aber Leute, die sowas sagen, haben einfach keine Ahnung. Am anschaulichsten und einfachsten lässt sich das an den Pensionsfonds zeigen, die ironischerweise deshalb viele Staatsanleihen halten, weil das eine der sichersten Anlageformen ist (haha). Man kann sich natürlich freuen, dass die Manager solcher Fonds darunter leiden müssen, dass sie sich verzockt haben, aber für die Pensionäre, die dann halt ohne Pensionen dastehen, ist es nicht ganz so geil und die können auch nichts dafür. So ähnlich nur ein bisschen komplizierter und indirekter ist es mit den anderen Banken auch.

Für Griechenland wäre es vielleicht eine Chance gewesen. Für eine Zeit lang wäre es sicher bitter geworden. Wahrscheinlich hätten sie die Drachme wieder eingeführt, sich selbst neues Geld gedruckt, um die laufenden Ausgaben bestreiten zu können und diese Währung kräftig abgewertet. Importe wären dadurch sehr teuer geworden und damit die Kaufkraft jedes Griechen deutlich geschrumpft. Exporte wären aber günstiger und damit für die Käufer attraktiver geworden. Dadurch kann sich die Wirtschaft langsam wieder erholen, auch weil die teuren Importe zum Teil durch Eigenproduktion ersetzt worden wären. Am einfachsten und schnellsten wäre aber der Tourismus angezogen. Vielleicht erinnern sich manche noch, wie vor einigen Jahren gefühlt jeder Zweite plötzlich Urlaub in Island gemacht hatte. Das lag eben genau daran, dass dieser durch deren niedrige Währung für alle sehr günstig war. So kommt wieder Geld ins Land, die Wirtschaft erholt sich, die Kaufkraft steigt wieder und nach einer Weile ist man über’n Berg. Allerdings wäre dabei etwas passiert, was nie vorgesehen war: Der Ausstieg (mindestens) eines Landes aus dem Euro. Der Euro ist aber ein Projekt der untrennbaren Verschweißung der europäischen Länder und sollte der Deckel sein, der auf ein paar Jahrtausende an gemeinsamer Geschichte des sich gegenseitig den Kopf Einschlagens gesetzt wird. Man entschied also anders.

Ein bisschen vereinfacht gesagt, sagten EU, EZB und IWF „Na gut, es ist zwar unvernünftig eure Staatsanleihen zu kaufen und deshalb macht das keiner mehr, aber wir tun das jetzt einfach mal trotzdem, um diese ganze Pleite-Sache vom Tisch zu bekommen“. Den Griechen wurde also nicht direkt Geld geschenkt, wie das oft impliziert wird, sondern es wurde in erster Linie das Ausfallrisiko in Kauf genommen und man hat die Griechen an den eigenen, sehr niedrigen Zinsen ein wenig teilhaben lassen. Daran geknüpft wurden allerdings Auflagen. Diese Organisationen hatten keine Lust ihr Geld einfach in ein schwarzes Loch zu werfen und zu hoffen, dass Griechenland damit dieses Mal nachhaltiger umgeht. Sie wollten Griechenland diktieren, wie das vernünftigerweise gemacht werden sollte. Damit sollte das eigene Ausfallrisiko verkleinert werden. Die damalige griechische Regierung hat diesem Deal zugestimmt.

Nun sind wir etwa 5 Jahre später und die Griechen sind, wie gesagt, immernoch pleite. Sie bekommen ihre Staatsanleihen immernoch nicht am Kapitalmarkt los und sind darauf angewiesen dass die EU & co auch weiterhin aus politischen Motiven griechische Staatsanleihen kaufen. Geändert hat sich z.B., dass deutlich weniger Banken und Pensionsfonds noch solche Staatsanleihen halten, dort also kaum noch Ausfallrisiko übrig ist (also eigentlich halten sie die schon, weil die EU-Staaten vor allem Bürgschaften dafür gegeben haben, also nicht die Anleihe selbst, sondern nur das Risiko übernommen haben, aber das kommt ungefähr auf das gleiche raus und wird eh nur gemacht, um die bestehenden EU-Regelwerke zu umgehen ¯\_(ツ)_/¯). Stattdessen ist relativ viel davon im Zuge der vergangenen „Rettungspakete“ an die anderen Eurostaaten übergegangen. Bei einer heutigen Griechen-Pleite würde also weniger Pleite-Domino unkontrolliert durch die Finanzwirtschaft rollen. Stattdessen würden einige Staatshaushalte einen ordentlichen Hieb in die Seite bekommen. Außerdem geht es den griechischen Bürgern und der griechischen Wirtschaft heute noch beschissener als vorher. Dementsprechend unzufrieden sind die Leute dort.

Um bei der Wirtschaft eines Landes was zu reißen, gibt es ganz, ganz grob gesagt zwei verschiedene Richtungen, in die man gehen kann. Man kann einerseits den Staat zurückfahren, Staatsausgaben senken, privatisieren, Steuern senken (oder niedrig halten), Löhne zurückfahren und so seine Wirtschaft „wettbewerbsfähiger“ machen. Man versucht damit dafür zu sorgen, dass die Produkte, die im Land produziert werden, billiger sind als vergleichbare Produkte von anderswo und deshalb nachgefragt werden. Dadurch wächst die Wirtschaft, mehr Leute haben wieder Arbeit, zahlen Steuern und man kann den Staat langsam wieder hochfahren. Das wird gerne unter dem Begriff „Austerität“ zusammengefasst, oder „angebotsorientierte Wirtschaftspolitik“. Die andere Variante ist, man nimmt ordentlich Geld in die Hand und gibt es aus. Man sorgt für ordentliche Löhne und Sozialleistungen, damit die Leute sich mehr leisten können, und gibt als Staat selbst auch mehr aus. Dadurch bekommen die Firmen Aufträge und Umsatz, zahlen Steuern (wie auch die Leute auf ihre Löhne und Einkäufe) und man kann die Kohle, die man dafür braucht, langsam aber sicher wieder gegenfinanzieren. Das wäre dann „nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik“ und ist gemeint, wenn Leute plötzlich anfangen von einem Herrn Keynes zu reden.

Die EU ist ein Fan von ersterem. Das liegt auch nicht zu knapp daran, dass Deutschland meistens und vor allem in letzter Zeit CDU-regiert wird und die SPD eine quasikonservative Versagertruppe ist. In vielen anderen EU-Ländern sieht das leider ähnlich aus. In Griechenland war das nicht so wahnsinnig viel anders. Als die EU mit Griechenland 2010 die Rettungspolitik, mit all ihren Auflagen, vereinbart hat, war dort eine PASOK-Alleinregierung an der Macht. Das sind deren Sozialdemokraten. Die Auflagen besagen im Prinzip „ihr macht gefälligst Austeritätspolitik bis zum bitteren Ende“. Nun gut, sowas passiert eben, wenn man Sozis wählt.

Die Griechen waren nicht begeistert und haben ihre PASOK-Partei geschreddert. So richtig geschreddert. Im Mai 2012 gab es vorgezogene Neuwahlen und PASOK segelte von 43,92% auf 13,18% ab. Nicht schlecht für eine zuvor alleinregierende Partei. Bei dieser Wahl hat alledings überhaupt niemand mehr als 20% bekommen und so gab es auch keine neue Regierung. Eine Neuwahl im Juni hat PASOK nochmal auf 12,28% heruntergedrückt. Übernommen haben dann deren Konservative (Nea Dimokratia, die eigentlich da schon kaum jemand wollte, aber irgendwen mussten sie halt wählen) in einer Koalition mit den Resten von PASOK und einer kleinen etwas grünlich-links-sozialdemokratisch angehauchten Partei. Diese haben die von der EU diktierte Politik natürlich fortgesetzt. Die kleinste der drei Parteien hatte da dann irgendwann selbst keinen Bock mehr drauf und hat die Koalition verlassen. Übrig blieben also quasi deren CDU und deren SPD, die selbst zusammen gerade mal 153 von 300 Parlamentssitzen hatten. Die Politik war allerdings immernoch scheiße, es besserte sich immernoch nichts und es ging vielen immer beschissener und beschissener. Die Griechen mussten also deutlicher werden und rupften PASOK in einer erneut vorgezogenen Parlamentswahl nochmal um 7,6% auf nur noch 4,68% und Nea Dimokratia auch ein wenig auf 27,81%. Man stelle sich mal vor die CDU hätte in Deutschland nur noch 27,81% und die SPD nach einer ehemaligen Alleinregierung (!) nur noch 4,68%. Das sind zusammen nicht mal mehr ganz ein Drittel der Wähler. Die SPD wäre bei uns so gar nicht mal mehr im Bundestag vertreten. Die hätten die FDP gemacht. Genaugenommen hatte die FDP 2013 sogar etwas mehr als das. Wie deutlich soll ein Wahlvolk denn eigentlich noch werden?

Gewonnen hat das Parteienbündnis SYRIZA (36,34% anstatt 4,6% vor der Rettungspolitik), das klar und deutlich gesagt hat die Austeritätspolitik beenden zu wollen. Sie koalieren mit einer kleinen rechtspopulistischen Partei, die zügig zugesagt hat diesen Weg mitzugehen, ohne besonders hohe Ansprüche zu stellen. Nach der Wahl gaben 79,2% der Griechen in Umfragen an die Vorhaben der neuen Regierung positiv zu sehen. Und das ist die Situation, in der wir momentan sind. Die Griechen haben ihre Politik der letzten Jahre abgewählt. Zuerst deutlich, dann nochmal überdeutlich. Darum haben wir nun einen Herrn Tsipras und einen Herrn Varoufakis durch die EU tingeln, die da plötzlich aufmucken. Sie wurden gewählt zum aufmucken. Alle, die nicht aufgemuckt haben, wurden abserviert. So richtig mit Schwung.

Auf der anderen Seite steht die EU mit ihren üblichen Leuten, wie Merkel, Juncker und Schäuble. Für die hat sich im Grunde nichts geändert. Dank völliger und langjährig nachgewiesener Merkbefreitheit wird dort an der Austerität festgehalten. Ihnen kann’s ja auch egal sein, es sind ja nicht die deutschen Bürger, die darunter leiden. Ihnen geht es aus finanziellen Gründen um die Risiken, die sie übernommen (und den Banken abgenommen) haben und aus politischen Gründen um den Zusammenhalt des Euro. Sie sehen keinen Grund irgendwas zu ändern. Sie sind ohnehin der Meinung, dass vergangenen griechischen Regierungen ihre Vorgaben nicht ordentlich genug umgesetzt haben und sie wollen von jeder neuen griechischen Regierung, dass sie das gefälligst tun.

SYRIZA macht nun eine Menge Wirbel, denn dafür wurden sie gewählt, aber sie brauchen auch eine Menge Geld. Die Anleihen aus der Vergangenheit werden nach und nach fällig und müssen bedient werden. Ein Staatsbankrott ist noch weniger attraktiv als er es 2010 schon war. 2010 hätte man vielleicht versuchen können eine schnelle Erholung zu erreichen, inzwischen ist das ganze Land aber so hart am Sack, dass sich die Frage stellt, auf was sie eigentlich noch aufbauen sollen. Möglich wäre es im Prinzip noch, aber eben kein Spaziergang. SYRIZA will das erklärtermaßen nicht, also brauchen sie neues Geld, um das alte abzulösen. Neue Geldgeber sind nicht in Sicht, also bleiben nur die alten. Und die stellen eben auch die alten Bedingungen. So, und nun? Die EU weiß, dass sie am längeren Hebel sitzt. Griechenland hat nichts, kein einziges Druckmittel, keine einzige Alternative (außer eben den Staatsbankrott). Reparationszahlungen aus dem zweiten Weltkrieg ist das einzige, was ihnen überhaupt noch eingefallen ist, aber auch das kann Deutschland und ganz besonders dem Rest der EU auch einfach egal sein. Das sind nur PR-Scharmützel. Sonst bliebe eigentlich nur die Drohung mit Selbstmord. Sie könnten den Staatsbankrott selbst in Spiel bringen und hoffen, dass die EU nicht einfach zusieht wie ein Mitgliedsstaat sich selbst die Rübe wegschießt. Leider würde das die ohnehin schon stattfindende Kapitalflucht verschärfen. Die Griechen schaffen jetzt schon ihr Geld außer Landes oder in Scheinen, auf denen gut lesbar „Euro“ steht, unter ihre Kopfkissen. Wenn es zur Wiederkehr der Drachme und damit einer drastischen Währungsabwertung kommt, sind diese Euros für ihre Besitzer das letzte bisschen Vermögen, das ihnen bleiben wird. Wenn sich abzeichnet, dass der Staatsbankrott wirklich kommen wird, werden das alle Griechen machen, so schnell sie können. Das bedeutet Bank Run, alles Bargeld wird abgeholt, alle Banken werden zahlungsunfähig. Jeder mit etwas mehr Geld wird versuchen es ins Ausland zu schaffen. Das bedeutet erstmal keinerlei Investitionen mehr in Griechenland. Das ist Game Over. Und darum kann man das noch nicht einmal als Bluff spielen.

Also am Ende hat es die EU in der Hand. Sie können SYRIZA komplett auflaufen lassen und sie zur Fortsetzung der Austeritätspolitik zwingen. Die Parlamentswahl in Griechenland spielt keine Rolle. Die Wahl von SYRIZA war umsonst. Alle Wahlen in Griechenland sind umsonst. Und das ist das Problem. Ein ganzes Land, kann seine eigene Politik nicht mehr selbst bestimmen. Die nationale Souveränität eines ganzen Landes ist futsch. Griechenland wird von Brüssel aus regiert und Brüssel kann in Griechenland nicht abgewählt werden. Die europäische Demokratie hat hier ein verdammt großes Problem und dieses Problem braucht eine Lösung. Kurzfristig gesehen könnte die EU gegenüber SYRIZA quasi „einknicken“, aber das ist bereits unrealistisch, da z.B. in Spanien mit Podemos bereits eine ähnliche Situation lauert. Aber eine Demokratie, die darauf angewiesen ist, dass eine übergeordnete Instanz ihr wohlwollend entgegenkommt, ist immernoch keine Demokratie.

Was sollen die Griechen da machen? Also die griechische Bevölkerung. Sie haben die Austerität abgewählt und sind gerade dabei festzustellen, dass das irrelevant ist. Was will man mit so einer Demokratie? Der naheliegende Gedanke wäre „die kann weg“. Was danach kommt ist schwer zu sagen, aber es wird wohl kaum im Sinne der Europäischen Union sein. Die aktuell drittstärkste Partei in Griechenland ist mit 6,28% die Neonazi-Partei Chrysi Avgi. Und wir sprechen hier von richtigen, harten Neonazis, die in Deutschland wahrscheinlich verboten wären. Damit ist noch nicht gesagt, dass diese das Land nach einem Scheitern von SYRIZA übernehmen werden, aber was soll denn in Griechenland noch folgen? Was sollen die Griechen dann noch tun?

Das wird nicht gut ausgehen und deshalb muss die Europäische Union, inklusive Deutschland, eine andere Lösung finden.